Kanonische Schriftauslegung am Beispiel des Psalters 

von Franz Böhmisch, Linz

Bibelwissenschaft  
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Franz Böhmisch

Vortrag in Wels, Puchberg, im Rahmen der Theologischen Sommerakademie der Diözese Linz 1996.


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Bibeltheologische Glossen

Dieser bibeltheologische Beitrag erscheint 1998 zusammen mit biblischen und sozialpädagogischen Programmen in überarbeiteter Fassung in der 
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Kanonische Schriftauslegung

Kanonische Schriftauslegung ist ein Konzept, das in den 90er Jahren in der Exegese Fuß gefasst hat. Es stammt im wesentlichen in unterschiedlichen Nuancen von zwei amerikanischen Exegeten, Brevard S. Childs und James A. Sanders.

James A. Sanders hat sein Konzept des canonical criticism (so eine der beiden englischen Vorlagen für den Begriff "kanonische Schriftauslegung") folgendermaßen beschrieben:

"Im Mittelpunkt des canonical criticism werden nicht die Einleitungsfragen nach Quellen und Einheitlichkeit stehen, die die Traditionsgeschichtler so sehr beschäftigt haben, sondern vielmehr die Fragen nach Wesen und Funktion der aufgenommenen Tradition. Wenn eine Tradition in einer bestimmten Situation zugrunde gelegt wird, müssen wir davon ausgehen, daß sie in dieser Lage als dienlich empfunden wurde: Sie sollte eine Aufgabe erfüllen, und aus diesem Grund nahm man sie auf. Im Zentrum des canonical criticism stehen die Fragen nach dem Wesen der Autorität und nach der Hermeneutik, der gemäß diese Autorität in der Situation, in der sie gebraucht wurde, eingesetzt wurde. Welcher Art waren die Bedürfnisse der Gemeinschaft und wie wurde ihnen begegnet?"
(zit. nach Miller, JBTh 3, 226)

Es geht diesem Ansatz also um die Identität einer Glaubensgemeinschaft, wie sie sich in den Texten ausdrückt, die sie akzeptiert und tradiert, weil sie als wichtig erkannt werden. So stellt Sanders für das Judentum die wichtige dreigestaltige kanonische Gliederung des jüdischen Kanon heraus mit der Tora als Zentrum, den Prophetenbüchern als Kommentar und den Schriften als fortführende Aktualisierungen. Der Kanon des Alten Testaments spiegelt dabei nicht einfach eine gesellschaftliche Situation, sondern will im Pluralismus des israelitisch-kanaanäischen Polytheismus die monotheistische Tendenz in den Texten voranbringen. In der Reaktion auf solche Texte entstehen wieder neue ergänzende Texte, was man heutzutage im Deutschen Fortschreibung nennt. Der anwachsende biblische Text spiegelt also das, was Sanders den "kanonischen Prozeß" nennt. Für Sanders und ebenso für Childs ist daher die letzte Entwicklungsstufe der alttestamentlichen Bücher die entscheidende Ebene, auf der die Wirkung, die Funktion und der Anspruch des Bibeltextes beim Erreichen der kanonischen Endgestalt des Buches festgestellt werden kann.

Kanon ist also nicht nur ein statischer Begriff, der den Umfang von relevanten Büchern angibt, sondern eine dynamische Kategorie für den Prozeß der Normativitätsfindung von Texten in der Glaubensgemeinschaft.

Diesem Begriff des Kanon von eher historischen Voraussetzungen her hat der amerikanische Alttestamentler Brevard S. Childs auch eine theologische Basis gegeben. Er nennt sein Unternehmen "canonical approach". Auch er hat die theologische Bedeutung der Bibel auf ihrer Endtextstufe wieder stärker ins Bewußtsein gerufen. In der Formgebung der uns vorliegenden Fassung der Hebräischen Bibel erkennt er eine große literarische und theologische Kraft am Werk. Die Bibel unterlag einem Prozeß des Auswählens, Neuordnens, Ausweitens, bis sie ihre Letztgestalt fand. Diese ist für den Exegeten relevant. Dabei betont er in besonderer Weise die Wechselbeziehung von Glaubensgemeinschaft und Textgebilde. Childs fordert von einem Schriftausleger, daß er sich in der Auslegung von der theologischen Funktion eines normativen religiösen Kanons leiten läßt. Das bedeutet konkret: Nicht nur rekonstruierte Fragmente historischer Vorstufen der biblischen Texte sind theologisch relevant, sondern die von den Endgestaltern der Bibel konstruierten kanonischen Textformen, welche man jedoch nur mit Hinsicht auf ihren Werdegang deuten kann. Nach Childs kann das Alte Testament in theologischer Hinsicht nicht wie eine historische Quelle benutzt werden, sondern als ein Glaubenszeugnis. Der Kanon stellt dabei keineswegs bloß eine lose Sammlung verschiedener Literaturwerke dar, sondern ein durchdachtes und wohl durchkomponiertes Ganzes. Dieses übergreifende Ganze des Kanons in seiner Endgestalt muß für die Interpretation aller seiner Teile herangezogen werden. 


Einige Beispiele sollen klärend wirken:


Ein wesentliches Problem dieses Ansatzes sei - bevor wir zu den Psalmen kommen - gleich genannt: Was ist der für das Christentum relevante Kanon? Die Gestalt des Kanons der hebräischen Bibel im Dreischritt Tora, Propheten, Schriften unterscheidet sich wesentlich von der ebenso absichtlichen Gliederung der Septuaginta in die vier Teile Tora, Geschichte, Weisheit, Prophetie.

Dieses Problem hat z.B. dazu geführt, daß in der neuesten katholischen Einleitung zum Alten Testament von Erich Zenger und anderen die dreigeteilte jüdische Bibel und das viergeteilte Alte Testament gleichermaßen ins Blickfeld gerückt werden.

Durch den canonical approach ist paradoxerweise stärker der Pluralismus in den biblischen Texten ins Bewußtsein getreten - mit all seinen Chancen und Problemen. 


Die kanonische Auslegung der Psalmen

Viele von uns werden die Psalmen in ihrem Studium in der Weise kennengelernt haben, daß einzelne Psalmen ausgewählt wurden, die exemplarisch für eine bestimmte Gattung von Psalmen stehen konnten. Da gibt es Jahwe-Königs-Psalmen, Klagelieder des Einzelnen, ein kananäischer Schöpfungshymnus usw. Paßt der Psalm nicht genau auf den Idealtyp einer Gattung, so wird die Abweichung im schlechtesten Fall "repariert" oder im besten Fall als bewußte Abweichung von der Form genauer unter die Lupe genommen. Der besondere Clou dieser sogenannten formgeschichtlichen Methode, die von Hermann Gunkel in der Psalmenexegese eingeführt worden ist, liegt darin, jeder Gattung einen besonderen "Sitz im Leben" zuzuordnen, einen Verwendungszusammenhang, in der diese Gattung beheimatet ist.

Das wiederum führte Gunkel dazu, für viele Psalmen mit kultischen bzw. oder rituellen Komponenten eine kultische Verwendung zu postulieren, was durch Exegeten wie Mowinckel noch verstärkt wurde.

Wieder andere werden vielleicht die Methode im Gefolge von Richter, Gross, Irsiegler kennengelernt haben, in der jeder Psalm als ein literarisches Kunstwerk mit literaturwissenschaftlichen Methoden einzeln untersucht wird.

Als Vorstufe zu der uns im folgenden interessierenden kanonischen Auslegung der Psalmen müssen wir die redaktionskritischen Psalmuntersuchungen ansprechen, die die redaktionellen Umgestaltung älterer Psalmvorlagen bis hin zu den heute vorfindlichen Psalmen beschreiben wollen. Wo man jedoch im Gefolge historistischer Konzeptionen früher daran interessiert war, die älteste Vorstufe zu rekonstruieren und auszulegen, wird nunmehr unter den oben ausgeführten Prämissen des canonical approach die letzte Redaktionsschicht die wichtigste Interpretationskategorie. Jedoch nicht die einzige, weil man in diesem Konzept davon ausgeht, daß Redaktionen die älteren Vorstufen bewußt so integrierten - inklusive Wiedersprüchen und pluralistischen Konzeptionen. Es entsteht ein kompliziertes Geflecht von Interpretationsebenen.

Ein Motiv, das dazu führte, von der formgeschichtlichen Methode weiterzugehen zu einem kanonischen Auslegungsansatz, wird klar von Norbert Lohfink formuliert:

"Der "Sitz im Leben" der meisten Psalmen gehört einer Welt an, in der wir nicht mehr leben und die es nicht mehr gibt. Gerade die Gattungsforschung, die so viel zum Verständnis der Psalmen beigetragen hat, macht uns die Psalmen fremd. Sie hat die kultische Herkunft vieler Psalmen gezeigt. Doch es war ein anderer Kult, nicht unserer." (Lohfink, AFL 34 (1992) 1-22).

Damit gibt Lohfink auch zu erkennen, daß ein wesentliches Moment im Wechsel der Methoden die Frage der Aktualisierung der Psalmen bzw. gerade die Problematik dieses Versuchs ist.

Besonders Norbert Lohfink, Frank Lothar Hossfeld und Erich Zenger stehen für eine kanonische Interpretation der Psalmen in der jüngsten Zeit.

Nach kanonischem Ansatz ist die Gesamtstruktur des Psalters hermeneutische Leitlinie für die Interpretation des Einzelpsalms.

N. Lohfink hat in einem Aufsatz im Archiv für Liturgiewissenschaft die Prinzipien am klarsten zusammengefasst - von dort wurden sie auch fast wörtlich in den Psalmenkommentar von Hossfeld und Zenger in der Neuen Echter Bibel übernommen:
Der Psalter sei - wie seine Endgestalt zeige - nicht Gesangbuch des zweiten Tempels und noch weniger Gesangbuch der Synagoge. Der Psalter sei vielmehr ein Gebets- und Meditationstext, kein liturgischer Text (so auch Zenger und Hossfeld). Ob damit - gerade wenn man die Hallelpsalmen am Schluß des Psalters anschaut - die Charakteristik des Psalters umfassend beschrieben ist, bezweifeln manche Exegeten, die nach wie vor den kultischen Horizont vieler Psalmen anführen. Die redaktionelle Psalmenverkettung funktioniert nach dem Konzept "kanonischer Lektüre"  als Meditationshilfe beim Studium des Psaltertextes, den man, wie Lohfink die entsprechende Stelle in Ps 1 übersetzt, murmelnd meditierte.

In letzter Konsequenz kann es durch diese Psalmverkettung sogar zu einer Sinnveränderung durch die Psalmenzuordnung kommen, wenn ein Klagepsalm in ein Gefüge von Klage und Lobpsalm eingebettet ist. Die Andeutung, daß damit auch ein Instrumentarium zur Verfügung steht, um schwierige Texte durch den Kontext zu entschärfen, sei mir hier erlaubt (vgl. Ps 2 oder auch Ps 3-7).
Die Auslegung des Psalms als einzelnes "Gedicht" wird also ergänzt durch die Auslegung des Psalms im Rahmen des "Gedichtbandes": "Die Psalmenexegese wird ergänzt durch die Psalterexegese", wie Erich Zenger in seiner Einleitung, S. 244 sagt.

Im Rahmen redaktionsgeschichtlicher Analysen entdeckt man (wieder) Strukturmerkmale des Psalters, besonders die concatenatio, die Stichwort- und Motivverkettung:
Ps 1 und 2 als zwei Rahmenpsalmen mit verschiedener Tendenz sind durch eine Redaktion zusammengebunden und zu einem Proömium des ganzen Psalters konstruiert. Ihnen entsprechen am Ende des Psalters die Psalmen 146-150 mit dem großen Hallel, die die Klammer schließen und zugleich ins universale Lob Gottes ausgreifen.

Man kann den Psalter in seiner Struktur mit Hilfe dieser Klammern beschreiben:
Die Unterteilung in 5 Bücher ist klar durch die 4 Benediktionen am Ende der ersten vier Bücher erkennbar. "Gepriesen ist der Herr, der Gott Israels" heißt der fast gleichlautende Abschluß der ersten vier Prophetenbücher - nach Koch sei aber darin gerade eine priesterliche Redaktion feststellbar , während im fünften Psalmbuch eine levitisch-sängergildliche Perspektive analog zu den Chronikbüchern vorherrsche- einen Punkt den wir im Auge behalten wollen. Ich habe das in der Grafik Beracha genannt, obwohl es sich nicht um JHWH anredendes Gebet, sondern um Bekenntnisformeln handelt. Wie unser Benediktus zeigt, ist hier keine so klare Grenze zu setzen. Am Ende von Ps 106 bzw. in der Septuaginta am Anfang von Ps 107 beginnt dann das fünfte Buch der Psalmen mit dem Aufruf "Halleluja", der zugleich das Thema des Buchschlusses anschlägt.

Das Anwachsen der Psalmengruppen und ihre Verknüpfung führte zu einer ersten Redaktion mit einem Rahmen durch die Pss 2-89, die im Thema des messianischen Königs bzw. David als Gesalbten verknüpft sind.

Die oftmals vertretene Klammer zwischen Ps 1 - 119 (z.B. Westermann, Seybold) als weisheitliche Redaktion ist zuletzt von Klaus Koch in einem Aufsatz in HBS 1 eindrucksvoll in Frage gestellt worden. Es handelt sich wohl nicht um eine weisheitliche Klammer in einer Phase, als der Psalter auf einen Bestand von Ps 1-119 angewachsen gewesen wäre, sondern vielmehr um einen nachträglichen korrigierenden Einschub von Ps 119 im Gefüge des 5. Psalterbuches. Im fünften Buch der Psalmen seien vielmehr jeweils ein Davidpsalter mit einem Hallelpsalter verknüpft worden, so daß dadurch eine Verbindung zwischen den ersten drei Büchern der Psalmen und dem zuletzt hinzugewachsenen Teil hergestellt wurde. Als letzte Klammer fungieren nach Zenger Ps 1 und die redaktionelle Erweiterung in Ps 2,10-12 und die Pss 149-150, wodurch die Armenfrömmigkeit der Frommen (Ps 149) zum Gurt um den Psalter würde.

Die Hallelpsalmen und bes. Ps 150 führen darüberhinaus zu einer Erweiterung der Perspektive, die den Rahmen des Psalters sprengt: Der Psalter versteht sich als Vorbild für das Jubeln von Volk, Völkern und Schöpfung und ruft zum Gotteslob der ganzen Schöpfung auf.

"Alles was atmet - lobe den Herrn."
In der griechischen Bibel ist ausdrücklich außerhalb der Zählung ein 151. Psalm angefügt, der David wieder in den Brennpunkt rückt und daher wiederum den Psalter in eine andere Richtung interpretiert - durch die Rahmung Ps 2 und 151
[Vgl. zu diesem Rahmen Seybold 20].

Wir haben im griechischen Psalter also wieder einen Davidspsalter vor uns mit verstärkter messianischer Perspektive. Wir stehen also wieder vor dem Problem, nach welchem Kanon wir den Gesamtrahmen der Psalmen verstehen sollen. Es dürfte einsichtig sein, daß die in der Kirchengeschichte dominante christliche Perspektive auf den Psalter durch die vielen davidischen bzw. messianischen Leittexte dominiert wurde und mit der Lektüre der Septuaginta bzw. der Vulgata in Verbindung steht. Der hebräische Psalter hat eine andere Struktur.

Diese Struktur möchte ich noch kurz am Proömium in den Pss 1-2 und im Finale der Psalmen im großen Hallel in den Pss 146-150 detaillierter erläutern.

"Schon allein die Verkettung der drei ersten Psalmen bewirkt in dem, der den Psalter als ganzen meditierend vor sich her murmelt, so etwas wie eine Aufsprengung der Einzelaussage, wie ein schwebendes Verschwimmen der einzelnen Verstehensebenen. Man kann jeden dieser Psalmen recht bald sowohl auf dieser Ebene als auch auf jener lesen. Alles ist offen auf Durchblicke und weitergreifende Einsichten hin. Aus der Fläche wird Raum. Das Verstehen kann sich in ihm hin und her bewegen." Lohfink, Archiv für Liturgiewissenschaft S. 12

Dieses Schweben der Exegese hat positive und negative Seiten. Manchmal ist die kanonische Exegese zu schön, um wahr zu sein. So mancher Exeget warnt vor einer Parallelomanie, vor dem Ausblenden des liturgisch-kultischen Hintergrundes der Psalmen in einem postulierten meditativen Letztzusammenhang. Doch für die pastorale Praxis ebenso wie die Gebetspraxis gilt, was Lohfink im zitierten Artikel meint:

"Es ist dabei für die Gebetspraxis weniger wichtig, Redaktionsarbeit und Vorgaben der Redaktion oder gar verschiedene Redaktionsstufen hypothetisch voneinander zu scheiden. Es kommt vor allem darauf an, im Endtext die vorliegende Verkettung und ihr semantisches Funktionieren möglichst genau zu beschreiben." Lohfink, AFL 13 A 41

Kanonische Psalmenauslegung gibt für das Verständnis des Psalters viele geeignete Hinweise. Doch bleibt anzumerken:
Endtextorientierung und holistische Exegese ist im Schwange, wie Gerstenberger im bisher wohl kritischsten Aufsatz zur kanonischen Psalmenexegese meint. Ob der Schwang länger als eine Mode währt, ist m.E. eine Frage des Überdrusses, der sich nach kürzerer oder längerer Zeit bei Exegeten und Bibellesern einstellt. Wenn dunkle Texte im Psalter aufgehellt werden, indem sie in das vermeintliche Licht des Kontextes gehalten werden, so wird dadurch das Dunkel nicht gebannt, nur so manches Problem durch kontextuelle Umdeutung ruhiggestellt.

Abschließend ein Gedanke zur Verwendung der Psalmen in der christlichen Liturgie.

Im Christentum kam es nach einer Phase kreativer Hymnenbildung zu einer Masse von häretischen Psalmendichtungen, die schlußendlich dazu führten, daß in der Liturgie wieder primär auf die biblischen Psalmen zurückgegriffen wurde. Der dynamische Prozeß von Liedbildung und Rekurs auf die traditionellen Formen der Psalmen sollte auch in unserer Zeit weitergehen - in der Linie der Psalterkomposition als Auftakt zum Lob Gottes durch
alles, was Atem hat.

"Alles was atmet - lobe den Herrn."

Franz Böhmisch