Franz Böhmisch


07.05.98


Franz Böhmisch, Die Gottesbilder der digitalen Noosphäre: Die religiöse Sprache des Internet

<http://bibelarbeit.net/noosphere.rtf>, mit Anmerkungen <http://bibelarbeit.net/noosphere.rtf>, mehrfach abgedruckt in Zeitschriften zu Medientheorie, „Bibel und Liturgie“.

Die Gottesbilder der digitalen Noosphäre: Die religiöse Sprache des Internet.

Intro

Eine Tour durch den WWW

[Suchabfrage bei http://www.infoseek.com nach WWW-Beiträgen zu Noosphere] [Rudolf Maresch, Paradoxe TheoTechnologien] [Rudolf Maresch, Ohne Körper geht es nicht]

Die Deutung neuer Medien am Beispiel der Photographie

In seinem Werk "Der Daguerreotyp" von 1839 beschreibt der Kunstkritiker Jules Janin, einer der ersten Theoretiker der Photographie, sowohl die neue Technik und Kunst der Photographie als auch die wissenschaftlichen, medientheoretischen und ästhetischen Aspekte dieser neuen Erfindung. Janin vergleicht bezeichnenderweise die photographische Erfindung mit dem Schöpfungsbericht: "Es gibt in der Bibel die schöne Stelle: 'Gott sprach: Es werde Licht, und es ward Licht.' Jetzt kann man den Türmen von Notre-Dame befehlen: 'Werdet Bild!' und die Türme gehorchen. So wie sie Daguerre gehorcht haben, der sie eines schönen Tages zur Gänze mit sich fortgetragen hat. Von den großartigen Fundamentsteinen, auf denen sie gründen, bis hin zu den zarten und leichten Spitzen, die sie in die Lüfte strecken und die noch niemand gesehen hat, außer Daguerre und der Sonne." Den ersten Fotografen wurde eine Macht über ihre Objekte zugesprochen, die mit der des Schöpfers zu vergleichen ist.

Dieses fast magische Verständnis der Photographie als Handhabe der Dinge ist im Verlaufe der Reflexion einer eingehenderen Theorie des Mediums Photographie gewichen. Das Pathos des Vergleichs mit der göttlichen Schöpfung ist uns wieder fremd geworden. Janin hatte schon erkannt: "Wir leben in einer einzigartigen Epoche. Wir denken heute nicht länger daran, nichts mehr selbst produzieren zu müssen, sondern wir suchen dagegen mit einer beispiellosen Ausdauer nach Mitteln, die für uns und an unserer Stelle reproduzieren." Walter Benjamin hat die epochale Bedeutung der Photographie für die Kunstgeschichte und die Geschichte im Allgemeinen erkannt und mit dem Begriff der "Reproduzierbarkeit" auf den Punkt gebracht: In seinem Essay "Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit" deutete er die Veränderung der Weltsicht durch die Photographie. Er konnte die Photographie geradezu zu einer Metapher der Geschichtswissenschaft erklären.

Diese kleine Episode aus der Geschichte des neuen Mediums "Photographie" sollte uns einerseits warnen, zu schnell angesichts eines neuen Mediums mit überzogenen theologischen Folgerungen aufzuwarten. Die Kritik des Wiener Philosophen Herbert Hrachovec sollte uns in den Ohren gellen: "Die Meister der großen Worte ("Virtualität", "Cyberspace", "Global Village") sind Fachidioten ihrer entschränkten Phantasie." Andererseits kann sie uns verdeutlichen, welche Veränderungen ein neues Medium in unserer Deutung der Welt zu bewirken vermochte und vermag.

Zudem zeigt die Geschichte der Theorie der Photographie, wie der Prozess der Deutung neuer Medien vor sich geht. Die Deutungen eines Mediums sind nicht für alle Medien generalisierbar. Der Umgang mit einem neuen Medium orientiert sich zunächst an älteren Medien, bevor Instrumentarien für die Deutung der spezifischen technologischen Möglichkeiten des neuen Mediums entwickelt werden.

Gottesbild

Auf Seiten der Theologie zeigen uns die Metaphern vom "Gottesbild" und vom "Gotteswort", von der "Heiligen Schrift" etc., daß unsere Vorstellungen von Gott immer schon mit den uns zur Verfügung stehenden Medien zu tun hatten und haben. Neue Medien wirken auf unsere Gottesvorstellung gestaltend ein. Auch die Lehre vom "Wort Gottes" ist eine Medientheorie, die uns nur viel selbstverständlicher ist, weil sie bereits in einer langen Tradition aus dem Johannesprolog und der jüdischen Propheten- und Weisheitsliteratur entwickelt ist. Wären wir gegenüber der Metapher "Gotteswort" so kritisch wie gegenüber der Metapher "Gottesbild" und stünden wir umgekehrt der Metapher "Gottesbild" und allen Metaphern der menschlichen Sprache, die sich an Gott herantasten, so offen gegenüber wie der Metapher "Gotteswort", wäre schon viel gewonnen.

Mit den Ausdrücken "Gottesbild" und "Virtual Reality", die wir heute thematisch zusammenspannen, haben wir zwei Modebegriffe vor uns und müssen vorsichtig sein, nicht einem Pathos zu erliegen, wie es uns bei Jules Janin begegnet ist. Die Karriere des Begriffes "Gottesbild" in den letzten 30 Jahren ist einzigartig und sagt viel über die gewandelte Vorstellung von Gott aus. Statt wie frühere Generationen das Wesen Gottes beschreiben zu wollen und daran zu scheitern, haben wir uns daran gewöhnt, uns gegenseitig in Wort oder Bild zu schildern, welche "Bilder" wir uns von Gott machen. Bilder sind mehrdeutig. Es sind viele Gottesbilder nebeneinander tolerierbar. "Gottesbilder" ermöglichen uns also, Gott pluralistisch zu formulieren und doch den Einen dahinter zu vermuten, zugleich auch die gebotene Distanz zu diesem ganz Anderen zu wahren. Was wir "Gottesbilder" nennen, ist also mit den "Gottesstatuen", die das Bilderverbot der Bibel meint, nicht direkt gemeint. "Gottesbilder" sind unsere Art, von der Transzendenz zu sprechen.

Die Deutung der Digitalmedien durch ihre Begrifflichkeit

Von der Götterstatue zum Avatar

Ich darf die Analyse der Datennetze auf ihre Gottesbilder über den Weg ihrer eigenen Begrifflichkeit mit einem Begriff beginnen, der scheinbar nur mit dem Menschenbild des Netzes zu tun hat, aber auf den zweiten Blick auch über das Gottesbild einiges kundtut. Es geht um den "Avatar".

Der Begriff des Avatars kommt aus dem Sanskrit. Im Hinduismus bezeichnet er das Gestaltwerden der Götter. Das Verb avatâra meint den Herabstieg eines Gottes, insbesondere von Wischnu in Gestalt des Krischna. Diese Bezeichnung für die Emanation des Gottes Wishnu, die auf Erden wandelt, stand Pate für die Benennung eines Stellvertreters des Menschen im Netz.

Die Begegnung von Menschen in Digitalnetzen und VR-Welten geschieht zunehmend über diese virtuelle Stellvertreter. Der Avatar ist ein ästhetisches Kunstgebilde, das das Verhalten des Menschen in der Welt der VR simuliert oder auch interpretiert. Eine dem Menschen nachempfundene Gestalt steht wie eine Spielfigur im Netz für den Netzteilnehmer oder die Netzteilnehmerin und symbolisiert dort seine bzw. ihre Aktionen.

Mit dem Avatar begegnet uns das für Digitalnetze charakteristische Problem des Körpers: In einem Datennetz ist es unmöglich, die Leiblichkeit des Menschen zu spiegeln. Der Körper des Menschen, Körperlichkeit überhaupt, zeichnet sich dadurch aus, daß der Körper ein Territorium einnimmt und nur in dieser Ausdehnung existieren kann. In digitalen Kunstwelten verschwindet diese Ausdehnung, ein Avatar könnte auch als unsichtbarer Nullvektor herumgeistern oder eine VR gänzlich ausfüllen. Er könnte Klang sein, eine Formel, Farbe. Die Imitation der menschlichen Leiblichkeit in Projekten der VR ist (noch) auf unsere leiblich vorstrukturierte Wahrnehmung hin konstruiert: unsere Basismetaphern oben - unten, hell - dunkel, männlich - weiblich werden in VR-Projekten nachempfunden, weil wir nur so mit ihnen zurechtkommen. Die Eigengesetzlichkeit des digitalen Mediums braucht diese leiblich strukturierte Kommunikationssymbolik nicht. Wir Menschen brauchen sie. An der Beobachtung der weiteren Entwicklung auf diesem Feld kann man also ablesen, was in der Entwicklung dominiert, das menschliche Bedürfnis oder die Eigengesetzlichkeit des Mediums.

Zugleich wird der Stellvertreter des Menschen im Netz mit einem Begriff aus der indischen Mythologie belegt, der dort nur den auf Erden wandelnden Göttern beigesellt wird. Dies läßt nur die Deutung zu, daß für die Gruppen, die hier prägend wirken, die menschlichen Akteure die Rolle von Göttern eingenommen haben. Die Selbstvergottung jedes einzelnen Menschen scheint damit zu korrespondieren. Wir werden später noch sehen, daß diesem Verständnis der im Netz sich "exkarnierenden" Menschen als Göttern andere Konzeptionen von Medientheoretikern entgegenstehen, die dem digitalen Netzwerk solche Qualitäten zuschreiben.

Noosphäre: Die Karriere eines theologischen Begriffs von Teilhard de Chardin

In der Kosmogenese von Teilhard de Chardin ist die Noosphäre jene Phase der geistigen Evolution, in der die Menschheit in einem Geist zusammenwächst und auf den Punkt Omega, wie er ihn nennt, zusteuert. Nach diesem teleologisch, also zielgerichtet, aufgebauten Evolutionsschema findet die Welt nach Teilhard de Chardin beim Ziel Jesus Christus in der Einheit zusammen. Es ist hier modern umgesetzt, was der Kolosserbrief anakephalaiosis nennt. Die Theologie des Teilhard de Chardin, die meiner Generation über die Religionsbücher der Oberstufe noch nahegebracht wurde, spielt zur Zeit im Diskurs der Theologie eine geringe Rolle. Umso interessanter finde ich, daß Begriffe von Teilhard de Chardin über die Umwege von literarisch gebildeten Medientheoretikern nicht nur in die Esoterik, sondern auch in die Netzszene abgewandert sind. Diesen Vorgang können wir am Begriff "Noosphäre" nachgehen, der in der Netzszene in seiner anglisierten Form "Noosphere" eine so bedeutende Rolle spielt.

Der schon genannte Medientheoretiker Marshall McLuhan verarbeitet in seinen Werken zur Buch- und Digitalkultur auch die theologische Entwürfe. Er nahm das theologische Konzept von Teilhard de Chardin auf und enttheologisierte es. Als Schlüsselfigur der Medientheorie verhalf er besonders dem Begriff der "Noosphäre" zu einer großen Verbreitung bei den Theoretikern und Praktikern der Virtual Reality. McLuhan spricht selbst von einer "kosmische[n] Membran, die sich durch die elektrische Erweiterung unserer verschiedenen Sinne rund um den Globus gelegt hat. Diese Hinausstellung unserer Sinne schuf das, was Teilhard de Chardin die »Noosphäre« nennt: ein technisches Gehirn für die Welt."

Von diesem Transfer McLuhans ausgehend scheint nun der Begriff in der Digitalszene rezipiert worden zu sein, ohne die theologische Herkunft noch mitzutransportieren. "Noosphere" ist so zum Zentralbegriff der Esoterik der Digitalnetze geworden. Ihn für eine theologische Auseinandersetzung zurückzugewinnen, wird zukünftig eine lohnende Aufgabe sein, setzt jedoch eine gründlichere Auseinandersetzung mit der Theologie von Teilhard de Chardin voraus, als sie hier geleistet werden kann.

Erinnern wir uns an den Aufruf des Philosophen Hrachovec, auf dem Boden der technischen Möglichkeiten zu verbleiben, und fragen wir uns in einigen Abschnitten, ob die technischen Möglichkeiten der digitalen Netze eine Diskussion über Gottesbilder überhaupt angezeigt erscheinen lassen.

Virtual Reality

Virtual Reality erscheint mir nach einer ersten Phase der Reproduktion bzw. Reproduzierbarkeit und einer zweiten Phase der Simulation von Realität der bisher letzte Schritt zu sein, mit Hilfe der Digitaltechnik eine eigene Welt zu konstruieren: technologischer Surrealismus.

Es ist zunächst zu klären, was wir alle mit dem Begriff "Virtual Reality" meinen. Haben wir einen engen technischen Begriff von VR und meinen darunter technologisch eine 3D-Illusion mit Rückkopplung an das menschliche Verhalten oder aber verwenden wir diesen Ausdruck philosophisch-essayistisch für die Verselbständigung der digital vernetzten Datenwelt?

"Kommen wir zur Idee des Virtuellen, zum technophilosphischen Anspruch, der hinter dieser ganzen Umwandlung der Wirklichkeit steckt. Die Idee des Virtuellen wäre die einer radikalen Verwirklichung der Welt, eine Operationalisierung aller Handlungen und Ereignisse durch reine Information, eine Aktualisierung aller Daten - einfach gesagt: die vorweggenommene Lösung der Gleichung «Welt»" (Jean Baudrillard)

Oftmals entstehen aus dem univoken Gebrauch der noch unerprobten Begriffe Mißverständnisse oder Überinterpretationen. In der Spanne zwischen dem technischen Gebrauch von "Virtual Reality" und den philosophischen Visionen, die sich mit diesem Begriff verbinden, liegt eine Quelle für unscharfe Theoriebildung und überzogenen Deutungen der Potentiale der Digitaltechnik. Nähern wir uns zunächst dem Begriff "Virtual Reality" (VR) von der technischen Seite. Wie schaut VR zur Zeit technisch aus, was wir am CAVE, einer Projektionshöhle für Virtual Realities entwickeln, und wieweit sind bisher Datennetze geeignet, VR zu erzeugen und Menschen in VR-Umgebungen zu vernetzen.

Cave: Cave Automatic Virtual Environment und der Philosoph Plato

Bei einem Cave handelt es sich um einen Raum zur Projektion einer dreidimensionalen Illusionswelt. CAVE ist die Abkürzung für "Cave Automatic Virtual Environment". Die Idee für die Cave kam dem Kunstprofessor Daniel Sandin und den Computerwissenschaftlern Tom DeFanti und Carolina Cruz-Neira an der University of Illinois in Chicago. Ihr Prototyp eines Geräts zur Visualisierung von Kunst und Wissenschaft für mehrere Menschen in einem Raum ist 1992 fertiggestellt worden. Der Name "Cave" wurde ganz bewußt gewählt, um auf das Höhlengleichnis in Platons Schrift "Republik" anzuspielen, in dem das Wechselspiel von Wahrnehmung, Erkenntnis, Realität und Illusion thematisiert wird. Cave ist also ein von Platos Höhlengleichnis abgekupferter Begriff, der für das technische Gerät in Anspruch nimmt, daß es zugleich mit der Wahrnehmung auch die Erkenntnis neu zu gestalten vermag. Stimmt dieser Anspruch, daß der Mensch nun sein Erkennen umgestaltet, da er das Wahrnehmbare selber schafft?

Seit September 1996 ist im ARS ELECTRONICA CENTER in Linz ein Cave für die Öffentlichkeit zugänglich. Mit Infrarotbrillen bestückt stehen die Besucher in einem kubischen Raum, der außer zur Zuschauerseite hin auf allen Seiten sowie von oben und unten durch Projektoren so ausgeleuchtet wird, daß sie sich in einen mehrdimensionalen Kunstraum versetzt sehen. Die Brillen sorgen dafür, daß abwechselnd stereoskopische Bilder jedes Auge getrennt erreichen und so der 3D-Effekt vervollständigt wird. Nach einem Start mitten im Weltraum, an Jupiter vorbei und durch die Sonne hindurch, findet man sich plötzlich in einer surrealistischen Welt wieder, in der Köpfe und Trichter das All bevölkern.

Wahrnehmungspsychologie als Schlüsselwissenschaft

Diese Technik ist beeindruckend und ermöglicht die Verwirklichung von Phantasien und Träumen, hinterläßt nachher aber auch ein Gefühl, wie unter Drogen gesetzt worden zu sein. Das Eintauchen in die präsentierte Welt ist so intensiv, daß sich eine leichte Benommenheit einstellt. Diese Technik wird im Autobau zur Optimierung der Fahrzeuge eingesetzt , zur Schulung von Technikern, die sehr teure Gerätschaft bedienen und zunächst in der VR den Ernstfall proben oder auch zur medizinischen Rehabilitation.

Die Techniken der VR kommen bisher nicht umhin, auf den Wahrnehmungsapparat des Menschen mit seinen fünf Sinnen aufzubauen und unterliegen daher den Gesetzen der Wahrnehmungspsychologie. Der Sinnesapparat legt dem Menschen zugleich Begrenzungen des Aufnahmevermögens auf. Auf einer alltäglichen Ebene zeigt sich diese Grenze in der Unfähigkeit des Menschen, die allseits produzierten Datenmengen noch verarbeiten zu können. Die Vermehrung der Kanäle führt nicht zu einer Erhöhung der menschlichen Wahrnehmungskapazität.

Techniker kommen ausdrücklich auf Aristoteles zu sprechen, wenn sie darüber nachdenken, wie die Sinneswahrnehmung des Menschen von Maschinen simuliert werden könne. Aristoteles Konvergenz der fünf Sinne in der "koine aisthesis", die Einheit der Sinne, steht hinter dem Konzept, die Mensch-Maschine-Interaktion multimedial (=multisensoral) zu verwirklichen und in einem weiteren Schritt Maschinen mit Sensoren "sensibel" zu machen. Dieses Konzept hat McLuhan mit seinem "interplay of senses" polemisch gegen die Isolation der Einzelsinne in der Gutenberg-Galaxis gestellt, in der entweder die Augen lesen oder das Ohr hört, selektive Tätigkeiten, die als Konzentrationsleistungen bei uns ein gutes Image haben.

Virtual Reality und die gegenwärtigen Digitalnetze

Die Investitionskosten für einen Cave, diesen kubischen Raum mit all der Technik drum herum, lagen in Linz bei etwa 2 Mio DM. Die Virtual Reality der Kleinen Leute am Internet sieht dagegen noch ganz anders aus. Über das Internet können Dateien geladen werden, in denen nicht allzu umfangreiche bewegte dreidimensionale Gebilde kodiert sind, die der Computer vor Ort dann zur Darstellung in die zwei Dimensionen eines Standardbildschirms bringt. Die Sprache Virtual Reality Modelling Language VRML besteht aus reinem Text und Zahlen, im wesentlichen Koordinaten von Eckpunkten, von Oberflächenstrukturen, Lichtquellen usw. Wenn man das Ergebnis mit dem Erlebnis in einem Cave vergleicht, so ist der Eindruck noch zweidimensional, den Fernsehgewohnheiten vergleichbar, mit dem Unterschied, daß der Nutzer die dreidimensionalen Gegenstände in die Ansichtsposition drehen und wenden kann, in der er sie sehen will. Es sind zwei verschiedene Medien. In das eine taucht man ein, bei der anderen schaut man nur auf die Oberfläche. Die neue Technik der Virtual Reality ist jedoch immer mehr im Vormarsch und wird mit jeder neuen Generation von Computern mit mehr Rechenleistung, besseren Grafikkarten mehr Verbreitung finden. Die Erlebniszentren vermehren sich rapide. Niemand von uns kann sich einen 70 mm Filmprojektor leisten wie ihn die großen Kinos haben - und dennoch hat das Kino unsere Wahrnehmung grundsätzlich verändert. "In Assoziation und Erinnerung leisten die ästhetischen Zuschauer kollektive Phantasiearbeit im Höhlendunkel des Kinos" sagt Norbert Bolz in seiner Theorie der Neuen Medien mit einer kaum überhörbaren Anspielung. Diese assoziative Phantasiearbeit prägt auch die Welt der Virtual Reality. Der Cave ist das digitale Groß-Kino der Zukunft. Diese Neue Technologie wird - wie wir gesehen haben - bereits in der Benennung metaphorisch mit alten Problemen des Erkennens zusammengebracht. Anders als über solche Analogien und Metaphern lassen sich die Entwicklungen um die neuen Digitalmedien kaum beschreiben - der Wortschatz ist erst umzugestalten und vertraute Argumentationsfiguren auf die neue Situation zu adaptieren. Die Grenzen der Analogien sind das Problem - und sie sind erst in Erfahrungen mit der Technik auszuloten. Werfen wir nun im Weiteren einen Blick auf die Deutungsversuche der Digitalmedien in medientheoretischen Entwürfen.

McLuhan: Das neurophysiologische Paradigma der Medientheorie

Marshall McLuhan, der bekannteste Medientheoretiker, begriff die Medien als "extension of man". Dieser Ansatz McLuhans prägt einen ganzen Strang der Medientheorie. "Elektronische Medien nennen wir jene unterschwellige technologische Erweiterung unseres zentralen Nervensystems, die seit Mitte des 19. Jahrhunderts statthat" definiert Norbert Bolz, der seine grundlegende "Theorie der neuen Medien" auf die drei Säulen Nietzsche, Benjamin und McLuhan aufbaut.

McLuhans Medienkonzept orientiert sich am Phänomen der Rückkopplung der menschlichen Äußerungsorgane (Muskeln) an das zentrale Nervensystem und der Verschmelzung dieser Impulse mit den genuinen Impulsen der Sinnesorgane. Nimmt man nun die neuen Medien als Erweiterungen sowohl der menschlicher Sinnes- als auch der Aktionsorgane, so kann man sie, wenn man diese Rückkopplung extrapoliert, als Rückkopplung auf sich selbst verstehen, pointiert im bekannt gewordenen Satz: "the medium is the message".

Dieses "neurophysiologische Paradigma" der Medientheorie nimmt m.E. die exklusive Funktion der körperlichen Sinne nicht mehr in der nötigen Weise ernst. Wenn McLuhan die Telegraphenleitungen als Nervenstränge der Landschaft bezeichnet und das Nervensystem zu einer Metapher der Datennetze erklärt, so wird die Grenze, die die Sinnesorgane bisher dazwischen setzen, vernachlässigt. Der letzte Schritt bei McLuhan geht von der Entäußerung des Zentralnervensystems zur Entäußerung des Bewußtseins: "extension of consciousness".

Digitalmedien als digitus des Menschen

Ein anderer medientheoretischer Ansatz deutet Digitalmedien als Werkzeug des Menschen. Die digitalen Medien bringen eine Verlängerung und Steigerung der körperlichen Fähigkeiten. Das Digitale ist wie die Fingerspitze des Menschen: "Doch immer noch ist es der Mensch, der als herrscherliches Subjekt seine Hand (oder gar Fingerspitzen = Digitalität) gegen die ihn umgebende Lebenswelt erheben würde und so Technik und Automation im strikt anthropologischen Kontext kreiere." Diesen Ansatz sieht Tholen bei Vilém Flusser. Dem widerspricht die Einsicht, daß die Medien sich der Direktive des Menschen entziehen können. "Das Medium ist die Botschaft", es transportiert also in allen Inhalten wesentlich das Prägende des Mediums selber, über das der Mensch nicht mehr verfügt.

Der Turing-Test

Durch die mediale Verknüpfung entstehen Imitationsspiele (Simulation): Maschinen imitieren menschliches Verhalten und perfektionieren diese Qualität bis zu einem Stadium, in dem Testpersonen das Verhalten von Mensch und Maschine nicht mehr unterscheiden können (Turing-Test: Mehr als 50% der Testpersonen meinen irrtümlich, mit einem Menschen statt einer Maschine zu kommunizieren). Ist einmal die Identität des Partners im Netz nicht mehr eruierbar, so zeigt sich hier tatsächlich eine neue Qualität in der Relation von Mensch und Maschine.

Textualisierung von Welt

Die digitalen Medien haben über diese Frage der "Neuen Wahrnehmung" hinaus eine Qualität, die sie von bisherigen Medien abhebt. Wie erläutert besteht die Kodierung der dreidimensionalen Welt (z.B. in der Sprache VRML, aber auch in komplexeren Kodierungen) lediglich aus Text und Zahlen bzw. aus Binärkode. Über einen "Text" konstruiert der Computer eine Welt, die durch die Hilfsmittel der Technik in unserem Kopf Gestalt annimmt. Man kann folglich von einer "Textualisierung von Welt" sprechen, wie wir sie bisher primär aus der Literatur kennen. Zu ihrer Deutung können wir uns auch am ehesten bei der Literatur bedienen:

Die kabbalistische Grundstrukur des vernetzten Denkens

In Umberto Ecos Roman "Das Foucaultsche Pendel" läßt er seine Hauptfigur Belbo ein Buch verfassen, das über Apokryphen und Notizen zu spiritistischen Orden, Kabbalisten und Satanisten eine fiktive Weltverschwörung konstruiert. Diese Weltverschwörung bringt ihren Autor Belbo schlußendlich selber zu Tode, um forthin in den Köpfen der Anhänger als selbstverständliche Realität weiterzuleben. Belbos Helfer ist nun bezeichnenderweise Abulafia, sein Computer, in dem diese literarische Welt ihre Gestalt annimmt. Abulafia ist ein wichtiger Vertreter der prophetischen Kabbala. Er stößt durch die Kombinationen des hebräischen Alephbets auf die Namen Gottes. Jens Schreiber knüpft die Linie so: "1914 ersetzte der Norweger A. Thue Abulafias Kombinatorik der Buchstaben durch Probleme über Veränderungen von Zeichenreihen nach gegebenen Regeln".

Ecos Roman können wir als Allegorie der dunklen Seite vernetzten Denkens und virtueller Realität, einer Art destruktiven Kabbala lesen. In Ecos Roman erzeugen die Protagonisten mit ihren Texten und Diskursen Wirkungen, die sich so verdichten, daß eine Wirklichkeit entsteht, die sie selbst darein verwickelt und umgestaltet. Der wichtigste Protagonist Belbo fällt den von ihm selbst in Gang gebrachten Vorgängen zum Opfer. Sein Tod ist aber nun nicht das Ende des Spiels und der Showdown für die Fiktion. Die Wirklichkeit der Fiktion beseitigt ihren Urheber und bekommt nun erst Eigenleben. Der Computer als Hilfsmittel der Protagonisten, als Textgedächtnis und Vernetzungsmaschine, intensiviert die Vernetzungs- und Assoziationsmechanismen der literarischen Welterzeugung. Er wird daher auch mit "Abulafia" trefflich bezeichnet.

Die Kabbala der jüdischen Tradition des Mittelalters, einer Mystik der Zeichen, die mit dem hebräischen Alephbet und der Tora arbeitet, ist nun deswegen Namensgeberin dieses Phänomens der "kabbalistischen Grundstruktur des vernetzten Denkens", weil ihr Umgang mit den Texten ähnlich ausfällt mit dem einen Unterschied, daß sie permanent auf Gott ausgerichtet bleibt und der göttliche Name das Zentrum der Mystik bildet.

Körper und Geist

Die Konzeption der Mensch-Maschine-Relation in den medientheoretischen Entwürfen hat unmittelbare Auswirkungen auf das Verständnis der Beziehung von Körper und Geist des Menschen.

Die Vorstellung von einer Extrapolation des Bewußtseins in digitale Medien führt bei manchen Theoretikern zu einer Entleiblichung des Menschen und einer "Exkarnation" des Geistes.

Endlich könne sich der menschliche Geist mit Hilfe der Digitaltechnik vom begrenzten Körper lösen, sich aus diesem arg reperaturanfälligen körperlichen Betriebssystem auf elektronische Komponenten überspielen und - als größte aller Hoffnungen - Unsterblichkeit erlangen. Elektronische Netzwerke haben offensichtlich eine gnostische Tendenz. Die Realität des Menschen als körperliches Wesen wird immer mehr als Defizit und evolutives Zwischenstadium beschrieben. "Wenn wir mit Hilfe der Nanotechnologie Ersatz für Körper und Gehirne entwickeln, werden wir länger leben, größere Weisheit besitzen und uns ungeahnter Fähigkeiten erfreuen." heißt es bei Marvin Minski.

Diese Visionen eines "transhumanen" entindividualisierten Geistes entwickelt Hans Moravec sogar so weit, daß der Mensch durch die Maschinen obsolet und die Evolution auf Maschinen übergehen werde. Marvin Minsky treibt diese Denkfiguren schließlich auf die Spitze, wenn er daraus den ethischen Imperativ ableitet, das Individuum müsse in Entwicklungen des digitalen Organismus eingeordnet werden; traditionelle ethische Systeme konzentrierten sich zu sehr auf die Einzelperson, was nicht mehr tragbar sei, wenn Maschinen den Geist von Menschen erfassen könnten. Peter Weibel hat zurecht diese Entwicklung schon vor Jahren kritisiert: Die Soziologen hätten früher im Gefolge von Hobbes Leviathan Eigenschaften des Körpers auf die Gesellschaft übertragen, während "man heute aber Eigenschaften der Gesellschaft auf den Körper überträgt. Ein Buch von Marvin L. Minsky mit dem Titel Society of Minds (sic!) beweist uns mit traurigem Nachdruck, daß diese Metaphorik des Sozialkörpers noch immer wirksam ist".

Memetik von Richard Dawkins

Eine andere einflußreiche Variante solcher Denkfiguren konzentriert sich um den Begriff der "Memetik". Der von Richard Dawkins, einem Evolutionsbiologen, geprägte Begriff "Mem" beschreibt in Analogie zu den biologischen Grundelementen, den Genen, und den grundlegenden Bedeutungseinheiten der Sprache, den Semen, kulturelle Informationseinheiten. "Memesis" ist der Prozeß der Evolution der Kultur, die sich - und das ist die These von Dawkins - immer mehr vom Menschen löst. Kulturelles Wissen kumuliere sich in einem Evolutionsprozess kleiner kultureller Grundeinheiten. Die bedrohlichen Konsequenzen dieser evolutionstotalitären Konzeption werden in der medientheoretischen Diskussion kaum wahrgenommen. Die Kategorie "Evolution" als oberste Maxime zu definieren, von der aus der einzelne Mensch zu relativieren ist, ist ein totalitärer monistischer Ansatz.

Medialer "Kollektivleib" als Gottesersatz?

Norbert Bolz sieht in den digitalen Strukturen nicht nur Ersatz für den Menschen, sondern auch für das Göttliche: "Medien bieten Ersatzformen von Allwissenheit und Allgegenwärtigkeit an. An die Stelle religiöser Kommunikation tritt heute Kommunikation als Religion. Totale Verkabelung, die Verstrickung im elektronischen Netz, wird der unbefangene Blick aber als profane Variante der religio - und das heißt ja eben: Rückbindung erkennen. In der Vernetzung zum integralen Medienverbund ist uns eine stabile Umbesetzung der Transzendenz gelungen. Das Göttliche ist heute das Netzwerk. Und Religion funktioniert als Endlosschleife."

Den Digitalnetzen wird hier zuviel aufgebürdet. Ähnliches hört man von Paul Virilio: "Ich bin Christ, und auch wenn wir über Metaphysik reden und nicht über Religion, muß ich doch sagen, daß der Cyberspace sich wie Gott aufführt und mit der Idee eines Gottes zu tun hat, der alles ist, sieht und hört."

Die "Usurpierung" göttlicher Attribute"

Die Gottesbilder vieler Medientheoretiker gleichen sich darin, daß den digitalen Medien einige Attribute des klassischen Gottesbegriffs zugesprochen werden, bes. Allwissenheit und Allgegenwärtigkeit. Eugen Biser hatte in einem Aufsatz mit dem Titel "Der Mensch im Medienzeitalter" diesen Vorgang als zentrale Herausforderung der Theologie begriffen. Schon Friedrich Nietzsche hat die Forderung aufgestellt, die an die göttliche Überwelt abgetretenen Attribute für den Menschen zurückzugewinnen. Mit Biser kann man diese Forderung im Anspruch der Digitalmedien eingelöst sehen: die Usurpierung göttlicher Attribute ist eingetreten. Der Gedanke, daß Allwissenheit als ein Attribut Gottes sich in den Datennetzen ereigne, ist Wurzel der Divinisierung des Netzwerks. Niemand, der die Digitalnetze kennt, wird einfach zustimmen, wenn das Netz als allwissend gepriesen und verherrlicht wird. Angesichts der kommenden Verschmelzung von Television und Telekommunikation, von Massenmedien, Publikationsorganen und Individualkommunikation zu einer Unimediakultur, einem einzigen riesigen Multimediaverbund, ist das Gigantische des digitalen Netzes aber auch nicht zu verleugnen. Die Frage ist, wie das technisch Gigantische mit Gott zusammenzudenken ist. Und hier haben die Theologen selber umzudenken gelernt, indem sie - durch die Bibel angeregt - die Selbstrücknahme Gottes entdecken konnten. Gott ist nicht die Extrapolation dessen, was bei den Menschen viel gilt (Macht, Wissen, Präsenz ...), ins Gigantische: Allmacht, Allwissenheit, Allgegenwärtigkeit ...Wo sich solche Qualitäten zu zeigen scheinen, ist ihre Deutung als "Neubesetzung des Göttlichen" daher eher eine Vergötzung, die die Theologen - apologetisch oder nicht - auch weiterhin als solche benennen müssen.

Die "Usurpierung göttlicher Attribute" durch elektronische Medien können wir gerade an den Metaphern und philosophisch-theologischen Begriffen ablesen, die sich in der Medientheorie breitgemacht haben und die ich anfänglich aufgezeigt habe:

· Cave, Höhle, mit dem Anspruch, eine neue Wirklichkeit durch neue Wahrnehmung zu schaffen;

· Avatar, Herabstieg eines Gottes in die Welt, als Benennung der digitalen Stellvertretung und "Exkarnation" des Menschen;

· Noosphäre als Benennung für die vernetzte Sphäre des Geistes, die man der theologischen Komponente aus ihrer Herkunft von Teilhard de Chardin entkleidet hat, bzw. die selbst zur Gottheit hochstilisiert wurde.

Wir können im Sprachgebrauch der Netzgemeinde also wesentlich zwei Tendenzen in Bezug auf Gottesbilder feststellen. Einmal das noch naive Verständnis der Datennetze als Vernetzung der einzigen Götter, die noch übrig geblieben sind, der Menschen, die sich einen Götterpantheon von Avataren ins Netz stellen. Ich möchte das mit dem Ausdruck "Polytheismus der digitalen Medien" belegen. Zum Anderen die Vorstellung, die Datennetze selbst übernähmen die göttlichen Attribute von Allwissenheit und Allgegenwärtigkeit, verknüpft mit einer unbegrenzt ausgezogenen Evolutionstheorie, die man als einen "Pantheismus der digitalen Medien" ansprechen könnte, in dem die Evolution an sich göttliche Qualität erhält und ein die Menschheit inkludierender vernetzter Superorganismus letztendlich auch die Rolle Gottes einnimmt.

Theologische Reaktionen

Józef Niewiadomski hat vor der Vergötzung der neuen Medien gewarnt , die wir auch schon beobachten konnten. Die bisherigen Versuche von theologischer Seite, mit den Gottesbildern der digitalen Medien zurande zu kommen, sind größtenteils apologetischer Natur. Auch wir sind hier dieser Linie gefolgt und haben uns der Aufgabe versucht, die H. Böhme darin sah, "die religiösen Grundlagen der technischen Revolutionen aufzudecken und die theologischen Rhetoriken der neuen Propheten und Hohepriester zu analysieren".

Als retardierendes Moment ist noch die Frage zu stellen, ob wir Theologen zu Recht mit erhobenem Zeigefinger den VR-Ingineuren entgegenhalten: "Ihr klaut unsere Begriffe, ihr klaut unsere Visionen und technisiert sie!" Die Theologie hat es ja lange Zeit versäumt, die gegenwärtige Kultur auch in ihrer technischen Komponente theologisch zu deuten, und hat damit die technische Welt im Stich gelassen in der Aufgabe, ihre eigenen Phänomene mit einem (christlichen) Glauben an Gott zusammenzudenken. Wenn die Theologie der technisch geprägten Welt wieder Deutekategorien anböte und sich ein kurzes Innehalten der Ingenieure/innen und Datentechniker/innen und das Zugeständnis, die religiösen Implikationen des aufgebauten Anspruchs oftmals ausgeblendet zu haben, erreichen ließe, dürften beide Seiten schon etwas zufriedener sein.

Es sei mir erlaubt, abschließend den Spieß umzudrehen und einen Begriff aus der Digitaltechnik theologisch umzudrehen, um die Bedeutung der Gottesfrage für die Medientheorie anzugehen:

Inkarnation versus Exkarnation (Christlicher Glaube versus gnostische Lösung vom Körper),

Von hier ist es nicht weit zu den Gedanken, die jeder Science-Fiction Leser zu genüge kennt: Die Einzelpersönlichkeiten der Menschen verschmelzen zu zu einem "Es", einer neuen Netz-Persönlichkeit. Marvin Minski zieht diese Konsequenz und relativiert von hierher die Rolle und Rechte der Einzelpersönlichkeit: "Keines der üblichen ethischen Systeme, religiös oder schlicht humanistisch, gibt eine Antwort auf die Herausforderungen, die sich uns heute schon stellen. Wie viele Menschen sollen die Erden bewohnen? Welche Menschen sollten das sein? ... Eine Persönlichkeit entsteht heute durch ein zufälliges Zusammentreffen zweier Erbanlangen. Eines Tages könnte sie hingegen nach sorgfältig bedachten Wünschen planvoll zusammengesetzt werden." [op.cit.] Das ist moderne Technosophie mit religiösem Anspruch und hat zugleich einen alten philosophischen Kern. Die Frage nach einer Weltseele, die in der einzelnen Seele realisiert sei, hat im Gefolge des islamischen Neuplatonismus das Mittelalter stark beschäftigt. Von dieser Diskussion können wir heute noch lernen. Die Tendenz zur digitalen "Exkarnation" steht der christlichen Rede von der "Inkarnation" diametral gegenüber. Die christliche Religion bietet als Ziel nicht die Loslösung des Geistes vom Körper an, sondern die freudige Akzeptanz des Leiblichen, die in der grundsätzlichen Annahme des Geschöpflichen durch die leibhafte Erschaffung des Menschen und die Menschwerdung (Inkarnation, Fleischwerdung) Gottes in Jesus von Nazaret grundgelegt ist.

Extropianer

Die extremsten Anhänger dieser technosophischen Strömung werden gemeinhin "Transhumanisten" genannt, ihre intellektuelle Avantgarde läuft unter der Bezeichnung "Extropianer" nach ihrer Fachzeitschrift Extropy. In der Fachzeitschrift für Computertechniker c't findet sich ein interessanter Artikel über diese Bewegung, die ich aus philosophisch-theologischer Sicht als Anhänger einer technischen Gnosis bezeichnen möchte. Ein Bestseller von Gregory Stock sagt im Titel schon das wesentliche aus: "Metaman. The Merging of Humans and Machines into a Global Superorganism" [Metaman. Die Verschmelzung von Menschen und Maschinen zu einem globalen Superorganismus]. Die Vision von der digitalen Evolution des Lebens ist Kern ihrer Philosophie. Manche von diesen Transhumanisten lassen sich nach dem Tod einfrieren in der Hoffnung, einst wieder zum Leben erweckt zu werden, wenn die Technik so weit ist. Was in religiösen Systemen genuine Aufgabe der Götter oder des Gottes ist, wird hier der Technik überantwortet. Aus der Sicht christlicher Theologie kann man sagen: Wem man die eigene Auferstehung anvertraut, den sieht man als seinen Gott an. Selbst wenn in dieser Philosophie das Wort "Gott" nicht mehr auftaucht, so ist implizit die technische Entwicklung und die digitale Evolution in den Rang Gottes erhoben worden.

Gott als "trojanisches Pferd" der Medientheorie

Entgegen dem eingangs vorgetragenen Beispiel der Deutung der Photographie durch Jules Janin, die symptomatisch für eine Epoche war, begegnet uns jetzt nur noch spärlich der Versuch, mit der Deutekategorie "Neue Schöpfung" an die nun nicht mehr ganz neuen digitalen Medien heranzutreten und diese darin einzuordnen. Dem liegt wohl die Beobachtung zugrunde, daß die Virtuellen Welten in den Caves und Computernetzen mit ihren assoziativen Vernetzungsmechanismen nur anders gedeutet werden können, wie z.B. durch Kategorien der Kabbala. Die vernetzten virtuellen Welten - ich benutze jetzt den weiteren Begriff von Virtual Reality - sind jedoch anders als in der jüdischen Kabbala nicht Werk eines einzigen Schöpfenden, sondern ein Konglomerat von Zeichen, das in einem Prozess permanenter Wechselwirkung immer neue Verknüpfungen in sich hervorbringt, sich also immer mehr den Erzeugern dieser Strukturen entzieht, die die Komplexität der Vernetzung nicht mehr zu durchschauen in der Lage sind. Zwar würden sich Kenner der jüdischen Mystik dagegen wehren, doch bringt der Vergleich mit der Kabbala, der in der Literatur aufgekommen ist, für die Deutung der Digitalmedien einigen Erkenntnisgewinn:

Die Welt der Digitalmedien ist ebenso wie die Welt der Kabbala ein Gebilde, das durch Permutation und Interpretation von Text entsteht - Daten werden in Welt umgesetzt. Die Vernetzung der Einzeldaten geschicht nicht durch logische Stringenz, sondern durch Assoziation und fortschreitende Vermehrung der Vernetzung.

Es scheint mir folglich theologisch weiterführender, die religiöse Metaphorik der Mediensprache aufzugreifen und ihre Grenzüberschreitungen neu zu sehen: Wie viele Medientheoretiker der Technik zuviel an göttlicher Macht zumuten, zeigt, daß Transzendenzsehnsüchte da sind, die über die Fähigkeiten der Medien hinausgehen. Die Vergöttlichungstendenz in der Medienkultur kann wie ein trojanisches Pferd wirken, mit dem Gott bereits in den medientheoretischen Diskurs eingeschleust worden ist. Die universale Vernetzung der digitalen Kabbala zeigt gerade in ihren Abstürzen, daß die biblische Rede von einem personalen Gott und einer Neuen Schöpfung, die nicht von Menschen produziert werden kann, weiter sinnvoll ist. Die Vielfalt und Dynamik der Digitalmedien kann - mit viel Phantasie - zugleich eine "Vorschau" bieten, welche Fülle die Schöpfung Gottes und die permanente Weitergestaltung der Schöpfung durch Schöpfer und Geschöpfe noch entbergen können.