Mythos 

Bibelwissenschaft 

© Franz Böhmisch

Mythos im Alten Testament

Die biblischen Schöpfungserzählungen in der Genesis inkludieren mythische Abschnitte, die alte Mythen aus dem altorientalischen Mythenschatz in abgewandelter Form aufnehmen, wie Elemente aus dem Gilgamensch-Epos, Enuma Elisch oder dem Atrachasis-Epos in Gen 1-3. Die mythischen Abschnitte wurden in der christlichen Exegese bis zum Anfang dieses Jahrhunderts einer biologistisch-rationalistischen Exegese unterzogen, die die mythische Ebene nicht aufnahm, sondern diese Geschichten als Erzählungen eines faktischen Geschehens las. Die Kenntnis der altorientalischen Mythen, die seit den Funden auf Keilschrifttafeln im 19. und 20. Jahrhundert die Exegese des AT bereichert, eröffnet neue Möglichkeiten der Auslegung vor diesem Hintergrund.1

Im Gefolge von Hans-Peter Müller kann man den Mythos am leichtesten über die Gattung erfassen. Mythos nennen wir nach Müller "die in einer Urzeit handelnde Götter- oder Gottesgeschichte, die einen Konflikt zwischen Göttern oder einen Konflikt zwischen einem oder wenigen Göttern mit Menschen durch eine spannungslösende Handlung befriedet - und zwar so, dass über der Konfliktlösung eine Existenz ins Dasein gerufen wird, die dadurch ihre Legitimität empfängt. In der Bibel gehören die Menschenschöpfungserzählung Gen 2, die Weltschöpfungserzählung Gen 1, die vor allem gegenüber dem Menschenschöpfungsmythos komplementäre Sintfluterzählung Gen 6,5-9,17 und die Sündenfallgeschichten der Gattung Mythos an."2
Die Funktion des Mythos

Der verschriftlichte Mythos hat nach Müller die Funktion, mittels der Erzählung von der Gottheit oder den Gottheiten eine elementare Fremdheit zwischen Welt und Mensch zu überwinden, die urzeitliche Stiftung, die dem Bestehenden Legitimität verleiht, durch den Ritus des Erzählens regenerativ wiederholbar zu machen und dabei "mit einer gewissen Selbstverständlichkeit den Menschen als Bezugspunkt des Erzählten, auch wenn sich die Handlung zwischen Göttern abspielt, darzustellen".3 Durch die Aufnahme mythischer Elemente in die biblische Urgeschichte kann diese die grundlegende Funktion der Deutung von Welt und Mensch gerade angemessen erfüllen. Eine entmythologisierende Deutung der Genesis ist nicht notwendig und auch nicht sinnvoll.
Möglichkeiten des Umgangs mit mythischen Elementen in den biblischen Schöpfungserzählungen

Für die Kommentierung und die Annäherung an die Genesis in der Religionsdidaktik findet sich in der Revitalisierung des Mythos ein Ansatz, um den Sinngehalt dieser Texte der Genesis für die heutige Zeit zu erheben.4 Der Mythos ist eine eigene Form von Rationalität. Durch eine neuerliche Lektüre der biblischen Schöpfungsmythen kann eine Verknüpfung zu modernen Mythen, wie sie in der gegenwärtigen Kultur laufend begegnen, hergestellt werden, ohne den biblischen Text durch vorgängige Entmythologisierungen seiner Qualität zu berauben.

Es geht jedoch zugleich um eine Kritik am Mythos, ohne die diese an Geschehnissen der ältesten Vergangenheit orientierte Gattung auch ein starres Korsett werden kann. Der Mythos ist angesichts neuer Herausforderungen zu transformieren. Dies betrifft z. B. konkret die Mehrungsverheißung in der biblischen Genesis, die im Kontext einer menschenleeren Welt eine grundlegend andere Bedeutung hatte als in einer von Überbevölkerung gezeichneten Welt.

Jegliche Auslegung des Buches Genesis ist zugleich im Bewusstsein zu betreiben, dass in einer langen Auslegungsgeschichte verschiedenste Ansätze an diesen meistkommentierten Text der Welt herangetragen wurden, deren Ergebnis in die verschiedensten Literaturen eingegangen ist und bis heute die Rezeption der Leser/Hörer prägt. Dies gilt bewusst und unbewusst vor allem für die jüdische und christliche Lehre, die aus dem gleichen Text recht unterschiedliche Grundannahmen über die conditio humana ableitet.
Mensch- und Weltschöpfungsmythos in Gen 1-3

In Gen 1-3 wird zunächst die Weltschöpfung und die Menschenschöpfung als Basis der Urgeschichte grundgelegt. Weltschöpfung in der Erzählung der Genesis geschieht durch das Erschaffen des Lichts als erstem Schöpfungswerk.5 Das Licht ermöglicht zuerst Ordnung im amorphen Chaos, indem es Zeitstruktur erzeugt, nämlich Tag und Nacht. Nach dieser Erschaffung der Zeitlichkeit geschieht die Erschaffung der Räumlichkeit dadurch, dass Gott das Licht von der Finsternis scheidet und so Ordnung in das vorhandene amorphe Chaos6 bringt. Das mythisierende Sprachspiel der Genesis lässt Gott also seine Schöpfung als Haus des Lebens mitten in ein von ihm gebändigtes Chaosmeer hinein erschaffen. Gen 1,1-2:

Am Anfang schuf Gott den Himmel und die Erde.
Die Erde aber war noch Tohuwabohu,
und Finsternis war über dem Urmeer,
und Gottes Hauch war in Bewegung über den Wassern.
Da sprach Gott: Es werde Licht!
und es wurde Licht.
Und Gott sah das Licht, dass es gut war.
Und Gott schied zwischen Licht und Finsternis.

Der Schöpfergott erschafft also, indem er in die ihm vorgegebene Tohuwabohu-Erde erschaffend gestaltet, d.h. in die lebensfeindliche Welt hineinwirkt, in der die Finsternis als bedrohliche Unheilsmächtigkeit vorherrscht, und um die herum das chaotische Urmeer tobt.7 Mit dem Plural der "Wasser" wird an die aus dem altorientalischen Schöpfungsmythos Enuma Elisch bekannte Dualität der Elemente Süßwasser (Apsu) und Salzwasser (Tiamat) angeknüpft, die anfänglich ein chaotisches Gemenge bilden und durch deren Scheidung dort in zwei Götter gleichen Namens die geordnete Schöpfung in einer Kosmogonie ersteht. In der Genesis ist dieses Chaos jedoch von Anfang an in der Verfügungsgewalt Gottes: Sein Hauch ist bereits als göttliche Kraft herrschaftlich über den Wassern in Bewegung.

Diese Schöpfung hält der Schöpfergott fortwährend mit seiner Schöpfermacht aus den chaotischen Kräften heraus. Schöpfung ist also nichts Punktuelles, ein für alle mal Geschehenes, sondern ein Gründungsakt Gottes, der fortdauert, solange Gott an der Schöpfung handelt. Nimmt sich Gott als Schöpfer zurück und lässt den Chaoskräften wieder Raum, so können diese Kräfte des Chaos wieder zurückkehren und die Schöpfung bedrängen, wobei die Chaosmächte jedoch immer in der Verfügungsgewalt Gottes sind (vgl. Ijob 40: Behemot und Leviatan, Psalm 93: Der königlische Schöpfergott als Bändiger des Chaos). Mit diesem mythisierenden Sprachspiel sagt die Genesis nach den Gesetzen des altorientalischen Mythos weniger, wie es zu dieser Welt gekommen ist, als vielmehr wie diese Welt wesentlich ist, in dem die Erinnerung an ein Urgeschehen erzählt wird.

In den ersten drei Tagen der Schöpfung gliedert Gott nach der Gen 1 die geschaffene Welt aus der Gegenwelt des Chaos aus. In den folgendenden drei Tagen schafft Gott in diese Welt hinein Pflanzen, Tiere und Menschen. Der Mensch, männlich und weiblich, ist nach dem Abbild Gottes geschaffen und so nach dem priesterschriftlichen Entwurf in Gen 1,26 , Gen 5,1, Gen 9,6 uö Adressat der Schöpfung. Der Herrschaftsauftrag über die ganze Erde (dominium terrae), die dem Menschen übertragen wird, ist erst in der Neuzeit als Knechtung der Natur mißverstanden worden. Im biblischen Text selbst und in der vorangehenden Auslegungsgeschichte wurde dieser Herrschaftsauftrag als Hege und Pflege der Natur verstanden. Die gegenwärtige ökologische Krise, die manche als Folge der christlichen Deutung des Herrschaftsauftrages verstehen wollen, öffnete erst wieder die Augen für die Einbindung des Menschen in die Natur im biblischen Text. Es bleibt jedoch zentral für die biblische Genesis die Sonderrolle des Menschen in der Schöpfung.8

Man würde die narrative Konzeption der biblischen Urgeschichte zerstören, wenn man diese aus Gen 1-3 gewonnenen Deutungen nicht weiterführt in den in den folgenden Kapiteln bis Gen 9 erzählten Menschheitsgenealogie, in der das weitere Geschehen in der Schöpfung im Zusammenspiel von Schöpfer und mitgestaltenden Geschöpfen erzählt wird.9


1 Vgl. Jamme, Christoph, „Gott hat an ein Gewand". Grenzen und Perspektiven philosophischer Mythos-Theorien der Gegenwart, Frankfurt a.M. 1991; Müller, Hans-Peter, Mythos als Elementarform religiöser Rede im Alten Orient und im Alten Testament: Zur Theorie der Biblischen Theologie, in: Neue Zeitschrift für systematische Theologie 37,1 (1995) 1-19.

2 Müller, Hans-Peter, Rechtfertigung des Mythos in bibeltheologischer und hermeneutischer Hinsicht, in: Andreas Bsteh (Hg.), Christlicher Glaube in der Begegnung mit dem Hinduismus : vierte Religionstheologische Akademie St. Gabriel ; Referate - Anfragen - Diskussionen, Mödling 1998, 63-77: 64.

3 Müller, Rechtfertigung des Mythos, 65.

4 Baltzer, Dieter, Entmythologisierung oder Re-vision des Mythos als Herauforderung religiöser Sprachlehre alttestamentlicher Fachdidaktik, in: Lange, Armin / Lichtenberger, Hermann/ Römheld, Diethard (Hg.), Mythos im Alten Testament und seiner Umwelt. Festschrift für Hans-Peter Müller zum 65. Geburtstag (BZAW 278), Berlin/New York 1999, 65-87.

5 Vgl. Westermann, Claus, Genesis, Bd. 1 (BK I.1), 3. Auflage 1983, 1-380; Weippert, Helga, Altisraelitische Welterfahrung. Die Erfahrung von Raum und Zeit nach dem Alten Testament, in: Mathys, Hans-Peter (Hg.), Ebenbild Gottes – Herrscher über die Welt. Studien zu Würde und Auftrag des Menschen (Biblisch-theologische Studien 33), Neukirchen 1998, 9-34.

6 Bauks, Michaela, Die Welt am Anfang. Zum Verständnis von Vorwelt und Weltentstehung in Gen 1 und in der altorientalischen Literatur (WMANT 74), Neukirchen-Vluyn 1997.

7 Vgl. Löning, Karl / Zenger, Erich, Als Anfang schuf Gott. Biblische Schöpfungstheologien, Düsseldorf 1997, 30.

8 Zum Herrschaftsauftrag vgl. Rüterswörden, Udo, Dominium terrae: Studien zur Genese einer alttestamentlichen Vorstellung (BZAW 215), Berlin/ New York 1993 und Weippert, Manfred: Tier und Mensch in einer menschenarmen Welt. Zum sog. dominium terrae in Genesis 1. In: Mathys, Hans-Peter (Hg.), Ebenbild Gottes - Herrscher über die Welt. Studien zu Würde und Auftrag des Menschen (Biblisch-theologische Studien 33) Neukirchen-Vluyn 1998, 35 - 55.

9 Vgl. Turner, Laurence A, Announcements of Plot in Genesis (Journal for the Study of the Old Testament Supplement Series 96), Sheffield 1990; Zenger, Erich, Gottes Bogen in den Wolken. Untersuchungen zu Komposition und Theologie der priesterschriftlichen Urgeschichte (SBS 112), Stuttgart 1983; Davies, Philip R. and Clines, David J. A. (Hg.), The world of Genesis. Persons, places, perspectives. Hg. von (Journal for the study of the Old Testament. Supplement series 257), Sheffield 1998.