Pluralistische Kanontheologie am Beispiel des Sirachbuches
von Franz Böhmisch, Linz

Bibelwissenschaft  
© Franz Böhmisch

Linz, 14. Juni 1999


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Accessus ad bibliam

Bibeltheologische Glossen

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Die Pluriformität der Textformen der Bibel

Das Sirachbuch wirft verschärft das Problem auf, welche Textformen für die Exegese und den gottesdienstlichen Gebrauch Relevanz besitzen. Denn

  1. hat das Sirachbuch ähnlich wie viele andere biblische Bücher eine hebräische und eine davon oftmals in den Nuancen recht verschiedene griechische Textform,
  2. gibt es selbst in den einzelnen Textformen Kurz- und Langfassungen, die zu verschiedenen Zeiten in verschiedenen Glaubensgemeinschaften kanonische Geltung besassen wie das z.B. auch beim protokanonischen Buch Jeremia bis heute virulent ist, wo die längere hebräische Textversion aufgrund ihrer Dignität im Gefolge des humanistischen Schlagwortes von der veritas hebraica in den letzten Jahrhunderten der griechischen Version vorgezugen wurde, die neuere Forschung im Gefolge der Qumranfunde jedoch dahin tendiert, der griechischen Textform des Jeremiabuches bzw. der hebräischen Vorlage, die diese Übersetzung spiegelt, eine größere Ursprünglichkeit zuzuschreiben;
  3. ist das Buch Jesus Sirach nie im jüdischen Kanon gewesen, sondern als deuterokanonisches Buch in der katholischen Kirche in den Kanon aufgenommen worden.

Welche Textformen sollen also in den verschiedenen Glaubensgemeinschaften Geltung erhalten?

Angeregt von Überlegungen von Maurice Gilbert und Daniel Harrington für das Sirachbuch und verwandten Ansätzen plädiere ich für eine pluralistische Kanontheologie, gemäß der in den Glaubensgemeinschaften je nach ihrer Tradition die entsprechenden biblischen Textformen parallel gelesen und gemeinsam verwendet werden, so dass "die ekklesiologische Einheit der einen Kirche in der Einheit der vielen Ortskirchen auch in der Vielfalt der gelesenen biblischen Textformen kanontheologisch"1 eingeholt wird.

Diese Forderung würde grundsätzlich bedeuten, dass Bibelausgaben herkömmlichen Typs mit einer Übersetzung des hebräischen Textes für die protokanonischen biblischen Bücher und ergänzt mit Übersetzungen der nur griechisch geschriebenen oder erhaltenen Teile der Bibel, abgelöst würden durch synoptische Bibelausgaben mit dem parallelen Abdruck von Übersetzungen der hebräischen, griechischen und zumindest für unseren Kulturkreis der lateinischen Bibel und wichtiger lokaler Bibeln wie der Lutherbibel und der Einheitsübersetzung, die oftmals einen Mischtext bieten. Der Umgang mit mehreren Versionen ein und desselben biblischen Buches mag am Anfang noch etwas verwirrend sein, doch kann ein Vergleich zum Problem der vier Evangelien, mit der Pluriformität die Christenheit gut zurandegekommen ist, zeigen, dass die Bewältigung dieser Vielfalt im Glaubensleben der christlichen Gemeinden möglich ist.

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Solche Unternehmungen überfordern die klassischen Methoden des Buchdrucks, sind jedoch mit Hilfe der Digitaltechnik leicht zu realisieren. Grundlegend bleibt jedoch die Aufgabe, jeweils die hebräische, griechische gegebenenfalls auch die lateinische, syrische, koptische Bibel sorgsam und ohne Vermischung mit anderen Textformen oder Korrekturen aufgrund vermuteter Fehllesungen in die Landessprache zu übersetzen, wobei natürlich wiederum Sinnverschiebungen entstehen, die jedoch aufgrund der synoptischen Textpräsentation mit den anderen Übersetzungen für die Leser eher nachvollziehbar sind.

Für das Sirachbuch würde die Umsetzung dieses Programms etwa so aussehen können, wobei auch daran gedacht werden kann, jeweils nur die gewünschte Textform der Leserin oder dem Leser darzustellen:

Sir Gr I

als Leittext

Hebräische Zusätze und Alternativlesungen Griechische Zusätze in den Handschriften
Sir Gr II
Zusätze in der lateinischen Bibel Lutherbibel

Einheitsübersetzung

Kommentar
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Der Arbeitsaufwand wäre allerdings gross, weil alle Textformen zunächst für sich allein übersetzt werden müssen. Ein Projekt zur deutschen Übersetzung der Septuaginta (griechische Übersetzung des Alten Testaments) ist nach den Berichten auf den letzten Tagungen der Arbeitsgemeinschaft der Assistentinnen und Assistenten an Biblischen Instituten Österreichs im Gange.

Ihre Meinung dazu würde mich interessieren. Sie können gerne Ihre Meinung dazu in das Animabit Diskussionsforum Bibelwissenschaft senden. Falls Sie dieses Diskussionsforum erstmalig nutzen wollen, müssen Sie sich vorher als neuer Nutzer registrieren.


1 Franz Böhmisch, Die Textformen des Sirachbuches und ihre Zielgruppen, in: Protokolle zur Bibel (PzB) 6,2 (1997) 87-122, 90. In diesem Aufsatz versuchte ich wissenschaftlich nachzuweisen, dass einerseits die Pluriformität der in den Kirchen gelesenen Textformen der Bibel alleine schon eine pluralistische Exegese erzwingt, andererseits die bibelhermeneutischen Entscheidungen der Kirche(n) dies zusätzlich notwendig machen. Dass diese wachsende Einsicht zeitlich mit postmodernen Literaturtheorien und Intertextualitätsdebatten zusammenfällt, ist nicht notwendigerweise ein Gegenargument gegen die Plausibilität dieser Theorie.