Henoch

Apokryphe Literatur mit Berufung auf Henoch aus Gen 5

Bibelwissenschaft

© Franz Böhmisch

Es gibt eine Unmenge an Henochliteratur, die sich auf Henoch beruft. Die Henochgestalt wird in der jüdischen Literatur zu einem Typus des Gerechten, der gemeinsam mit anderen Erzvätern bei der Offenbarung des eschatologischen Heils vom Himmel her erscheinen wird. Die Henochliteratur erfreute sich auch bei den Christen großer Beliebtheit. So gibt es neben den großen bekannten Henochbüchern eine koptisch-saidische Henochschrift (7.Jh.), eine armenische Vision der Gerechten Henochs (8.Jh.), eine Apokalypse von Bischof Kyriakos von Segestan und Bar Salta von Resayna (8. Jh.), eine lateinische Schrift astrologischen Inhalts aus dem Mittelalter, die auf eine arabische Vorlage aus dem 8. Jh. zurückkeht und viele christliche Visionsschriften, die dem Inhalt nach der Henochliteratur zuzuordnen sind.
Den Kern der Henochliteratur machen die drei großen Henochbücher aus: das äthiopische Henochbuch (1Hen, äthHen), das slavische Henochbuch (2Hen, slHen) und das hebräische Henochbuch (3Hen).
 

Das äthiopische Henochbuch (1Hen)

Es gibt Fragmente in den verschiedensten Sprachen (aram. syr. kopt. gr. lat), aber die einzige vollständige Version dieses großen Werkes liegt in äthiopisch vor, weshalb dieses Buch das äthiopische Henochbuch genannt wird. Die ältesten, für diese Version bedeutenden Manuskripte stammen aus dem 15./16. Jahrhundert. Es wird angenommen, dass die äthiopische Fassung um 500 n. Chr. von einer griechischen Vorlage übersetzt wurde. Bei der Frage nach dem urtext ist man sich in der Forschung immer noch nicht einig. Wahrscheinlich setzen sich die Urtexte aus aramäischen und hebräischen Texten zusammen, da es sich nicht um ein einheitliches Buch, sondern um ein Sammelwerk aus verschiedenen Büchern handelt.
Das Werk gliedert sich in
  1. Buch der Wächter (1Hen 1-36)
  2. Bilderreden (1Hen 37-71)
  3. Astronomisches Buch (1Hen 72-82)
  4. Traumvisionen (1Hen 83-91)
  5. Mahnreden (1Hen 92-106)
  6. Anhang (107-108).
                                                         
                                                   
       
Gliederungsmodell des 1 Henoch
       
                     
                                                         
     
1-36 Buch der Wächter
                                   
  I.                                      
                                         
                                                         
               
Buch der Giganten (? Milik)
 
37-71 Bilderreden
     
  II.                    
                       
                                                         
             
72-82 Astronomisches Buch
                               
  III.                                          
                                             
                                                         
                       
83-91 Traumvisionen
                   
  IV.                                        
                                                       
                                                         
                             
92-105 / 106-108 Epistel
           
  V.                                      
                                         
                                                         
          3. Jh.       3. -2. Jh.         2. Jh.       1. Jh. v. Chr.        
                                                         
                                       
© Franz Böhmisch, Linz
 
Bei der Frage nach der ursprünglichen Fassung des Buches und der Entstehungszeit der einzelnen Teile scheiden sich in der Forschung die Geister. Allgemein kann man sagen, dass die ältesten Teile um 200 v. Chr. bereits vorliegen (und im Buch der Jubiläen zitiert werden) und die jüngsten Teile in der frühchristlichen Zeit entstanden sind. Milik behauptet, dass das Buch der Bilderreden ein christliches Produkt sei, das erst um 400 n.Chr. entstanden sei und ein an dieser Stelle ursprünglich zu findendes "Buch der Giganten" verdrängt habe.
 

Das slavische Henochbuch (2Hen)

Der slavische Henoch ist eine midraschartige Verstärkung von Gen 5,21-32 über das Leben Henochs bis zur Flut. Der Inhalt der Kapitel 1-68 handelt von der Aufnahme Henochs in den Himmel und seinen Weg durch die sieben Himmel. Danach kehrt er zu seiner Familie zurück und berichtet ihnen als Künder des Himmels von diesen Geheimnissen. Kapitel 69-73 handelt von seinen Nachfolgern Methuselah und Nir und schließt mit der Geburt Melchisedeks und dessen Himmelfahrt.
Der slavische Henoch liegt in einer kurzen Rezension B und einer längeren Rezension A vor, wobei angenommen wird, dass die längere Rezension B älter ist als A. Die Textentwicklung läuft ähnlich wie bei 1Hen mit Vorstufen in einem aram./hebr. Urtext, griechischen Übersetzungen und davon erstellte slavische Übersetzungen.

vgl.
Christfried Böttrich, Weltweisheit - Menschheitsethik - Urkult. Studien zum slavischen Henochbuch (WUNT 2/50), J.C.B. Mohr (Paul Siebeck): Tübingen 1992, ISBN 3-16-145860-5, DM 89.

Diese Dissertation an der Kirchlichen Hochschule in Leipzig 1990/91 bietet eine umfassende Einführung in das sog. slavische Henochbuch. Eine ausführliche Bibliographie und eine umfangreiche und nuancierte Forschungsgeschichte spannen den Bogen von hebräisch-aramäischen Henochtraditionen des 3. Jh. v. Chr. über die südslavischen Übersetzungen des 11. Jh. und deren Eingliederung in die altrussischen Chronographen des 15. Jh bis hin zu den letzten Handschriften im 18. Jh. Die slavische Überlieferung bietet im Wesentlichen zwei Textformen in einer Lang- und einer Kurzfassung. In kompakten Exkursen wird über die verschiedenen Kapitel- und Verszählungen informiert und die Kapitelzählung in der Übersetzung von Andersen empfohlen (Proömium Kap 1a, Melchisedek Kap 69-73), eine Liste aller Handschriften geboten, die Frage der Melchisedekerzählung im sog. Anhang des slHen schwerpunktmäßig untersucht, die Bedeutung des Kalenders in slHen analysiert und die immer wieder aufgeworfene Frage des Einflusses von Stoffen aus slHen auf die Ikonographie der Ost- und Westkirche eher skeptisch überprüft. In der Rückfrage nach der griechischen Überlieferung lassen sich literarkritisch Zusätze aus jüdischer Mystik (Henoch im 8.-10. Himmel in 21,6-22,3; Henochbiographie in 68,1-4; Henoch betont als Mensch 39 ), frühchristliche Erweiterungen (kalendarische Angaben, Michael, Satanael, Schwören 49,1-2 und Mt 5,37; Variationen zu Melchisedek/Christus bzw. Adam/Christus Typologie Kap 71,32-37 in Handschrift R) und byzantinische Einschübe (Chronographie in 73, Himmelsbücher, Siebenzahl von Phönixen) abheben. Das slHen entstand als jüdische Schrift in Nachbarschaft zu 3Bar im 1. Jh. wohl in Alexandrien (verm. in griechischer Sprache mit vielen Hebraismen) und fand seinen Weg bald nach 70 in die esoterischen Kreise jüdischer Mystik, ging ab dem 4. Jh in christliche Bibliotheken über bis es im 11.-13. Jh in einer Langfassung das Ende des Textwachstums erreicht hatte (somit diese für Böttrich der Forschung zugrundezulegen ist) und nunmehr in der slavischen Überlieferung Kürzungen unterworfen wurde, die zu den Kurzfassungen führten.
Die thematischen Schwerpunkte konzentrieren sich um Henoch als einer Integrationsfigur für 1. die auf ihn zurückgeführten kalendarischen und astronomischen Traditionen und ihrer Schöpfungserzählung in den Kap 1-38 und 2. die ethischen Aussagen in 40-73 sowie auf die kultische Integrationsfigur des Melchisedek im bisher nach Böttrich allzusehr vernachlässigten Teil in slHen 68-73, in denen ein „Einbruch der göttlichen Welt in die menschliche ‘konkurrierend’ neben Henochs Himmelsreise tritt“ (148). Als theologischer Leitgedanke des slHen wird „das Bemühen um eine Verbindung der eigenen, jüdischen Glaubensgrundlagen mit den herausforderungen der hellenistischen Umwelt“ (211-212) erhoben. Ein abschließendes Kapitel benennt die Bedeutung des slHen für die NT-Exegese in den Schwerpunkten Eschatologie, Ethik und Melchisedek (Hebr). Daneben ergibt sich manche Einsicht in Kalenderfragen (vgl. Qumran) und damit zusammenhängende Probleme im Umfeld der frühjüdischen Weisheits- und Schöpfungstheologie sowie der Brückenfunktion des slHen hin zur jüdischen Mystik.
Was der Rezensent beisteuern kann ist nur, dass Henoch in der esoterischen Szene des Internet ein neues Revival erfährt und somit diese esoterische Erfolgsgeschichte weitergeht.

Franz Böhmisch
 

Das hebräische Henochbuch (3 Hen)

Der hebräische Henoch berichtet von einer Vision des Rabbi Ismael, der in den siebten Himmel aufsteigt und den Thron Gottes schaut. Er begegnet dort Henoch, der ihm erzählt, dass er in den Engel Metatron verwandelt worden ist. Auffallend für den hebr. Henoch ist die Bedeutung der Bilderreden aus 1Hen, während der slavische Henoch nicht bekannt ist (nach einer Forschungsmeinung).
  1. 3Hen 1-2:    Einleitung
  2. 3Hen 3-16:    Henoch-Metatron , dem verschiedenste Titel zugesprochen werden ("Erwählter", "kleiner JHWH"), "er kennt alle Geheimnisse der Schöpfung", "er ist in den Himmel entrückt worden, um Zeugnis abzulegen für die Sünder", "er regiert das All im Namen Gottes" etc.
  3. 3Hen 17-28:    ist ein Abschnitt über die Engel
  4. 3Hen 29-33 handelt über das Gericht
  5. 3Hen 35-40 Gesang der Engel
  6. 3Hen 23-24;33-34;37 bilden einen Einschlub über die Mystik der Merkabah (d.h. des Thrones Gottes)
  7. 3Hen 41-49 beinhalten Themen wie himmlische Geheimnisse, die Schau der vergangenen, gegenwärtigen und zukünftigen Geschichte, Astronomie, göttliche Namen und verschiedene Anhänge.
Grundlage für die hebr. Ausgabe des 3Hen ist eine Handschrift aus dem Jahre 1511. Einzelne Teile der Schrift (z.B. 3-15) könnten laut Odeberg schon im ersten oder zweiten nachchristlichen Jahrhundert entstanden sein, andere Forscher plädioeren aber eher für das 5.-7. Jahrhundert n. Chr. Ein Grund dafür ist die mystische Deutung der Hekalot. Die Entstehung erklärt man sich als eine Weiterführung der älteren Henochliteratur mit Einflüssen von aussen, z.B. der Gnosis, späteren rabbinischen Traditionen und sicherlich auch durch die mystische Tradition der Merkabah.
 

Literatur

(veralteter Stand 1995)

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