Gen 4 

  Bibelwissenschaft
© Franz Böhmisch

 
 
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Kain und Abel

Mit der Erschaffung des Menschen treten neben Gott neue Akteure auf die Bühne der Schöpfung - und das Geschehen wird komplizierter, als es noch unter dem einen Akteur Gott gewesen ist. Die Schöpfung erfährt nämlich nun bereits mit dem ersten Menschen ihre erste Verweigerung und kommt schließlich mit Kain in die Sackgasse. Erst mit Noah wird die Schöpfung wieder auf einen guten Weg gelangen.

In Gen 4 wird erzählt, wie der Ackerboden (die ADAMAH) vom Blut des ersten ermordeten Menschen besudelt wird, das anklagend gegen den Mörder zu Gott emporschreit und ab Gen 5 wird im Stammbaum des Set, des dritten Sohnes Adams und Evas, und seiner Nachkommen die weitere Geschichte der ganzen Menschheit erzählt, die in Noah ihren Stammvater hat, der mit seiner Großfamilie die grosse Reinigungsflut überlebt.

Bereits der erstgeborene Mensch Kain1 wird nach der Erzählung von Gen 4 zum Mörder. Dieses Kapitel ist so knapp und dicht erzählt, dass die Leser immer schon genötigt waren, die zahlreichen Leerstellen selbst aufzufüllen, um den Fortgang der Erzählung zu deuten. ADAM's Ähnlichkeit mit Gott wird bereits von seinem Erstgeborenen nicht mehr im Bruder Abel gesehen. In Wut über Zurücksetzung tötet er Abel (hebr. HEBEL für Vergänglichkeit) und damit einen ADAM, der gezeichnet ist mit Gottes Ähnlichkeit. Als Tatfolge nach orientalischem Recht, das man zum Verständnis dieses Abschnitts heranziehen muss, zöge diese Tat nun die Todesstrafe nach sich, womit die Vermehrungsverpflichtung bereits im ersten Glied zu ihrem Ende käme, weil die beiden Kinder der erschaffenen Menschen Adam und Eva (als ADAM, männlich und weiblich) nicht mehr am Leben wären.2

Kommt Kain aus dem Paradies?

Die strukturellen Gemeinsamkeiten von Gen 3 und 43 zeigen, dass bereits auf der Textebene eine gewisse parallele Struktur des Sündenfalls Adams und des Mordes Kains bestehen. Die parallele Abfolge: gute Ausgangssituation - Konflikt und Vergehen - Störung des Lebens - Rettende Intervention des Schöpfergottes ist bis in die Details hinein zu beobachten:
Gen 3 Gen 4
3,9 Wo bist du? 4,9 Wo ist dein Bruder?
3,13 Wozu hast du das getan? 4,10 Was hast du getan?
3,17 Verflucht der Acker 4,11 Verflucht vom Acker
3,23 Gott vertrieb den Menschen 4,14 Du vertreibst mich
4,24 Östlich vom Garten Eden 4,16 Östlich von Eden
Doch wie sind diese strukturellen Parallelen in den beiden Kapiteln zu deuten? Ist auf der Erzählebene eine kausale Abfolge gedacht? Die Beantwortung dieser Frage in der jüdischen und christlichen Auslegungsgeschichte sagt Charakteristisches über beide Bekenntnisse aus.4

Zur Beantwortung dieser Frage muss die Leserin/der Leser nämlich einige Leerstellen in der biblischen Erzählung auffüllen. In Gen 4,1 beginnt (nach der Erzählung vom Sündenfall in Gen 3!) die Kainsperikope in den christlichen Übersetzungen mit dem Satz:

"Und Adam erkannte seine Frau Eva und sie empfing und gebar Kain."

während sie nach traditionellem jüdischem Verständnis (das sich wiederum vom Verständnis der heutigen althebräischen Verblehre unterscheidet) z.B. bei Raschi so zu interpretieren ist:

"Und Adam hatte seine Frau Eva erkannt und sie empfing und gebar Kain."

Nach traditioneller jüdischer Exegese des Sündenfalls ist dieser Adam ein freier Mensch, der als erster ein Gebot Gottes übertritt und für seine Ursünde individuell die Verantwortung zu tragen hat. In der Übertretung des Gebotes durch Adam verliert dieser seinen paradiesischen Zustand der Erkenntnis nur des Guten und es eröffnet sich ihm auch die Erkenntnis des Bösen. Es gibt jedoch nach jüdischer Auslegung von Gen 3 keine Weitergabe dieser Ursünde auf die Nachkommen des ersten Menschen. Vielmehr hat jeder Mensch individuell die Möglichkeit, zwischen dem Guten des Gebotes und dem Bösen der Verweigerung zu wählen. Während Adam in Gen 3 explizit gesagt bekommt, was geboten ist, wird Kain nur eine allgemeine Orientierung gegeben. Kains Verfehlung liegt darin, in Abel nicht den Bruder in Gottes Ähnlichkeit zu erkennen. Kains Handeln ist völlig frei und er entscheidet sich frei für die böse Tat. So z.B. die Auslegung des jüdischen Bibelkommentators Raschi (Rabbi Salomo ben Jitzchaq) aus dem 12 Jahrhundert.

Nach verbreiteter christlicher Auslegung ist der Fall Adams Urgrund aller Sünde und Kains böses Handeln Wirkung dieser Beeinträchtigung des Menschen im Handeln zum Guten. In Kain kommt das Böse zum Durchbruch, das sich in der Verweigerung Adams angebahnt hat (so z.B. die Auslegung des Nikolaus von Lyra OFM 14. Jahrhundert u.ö.).

Und in diesem Kontext erhält die eingangs gestellte Frage "Kommt Kain aus dem Paradies" auf überraschende Weise in der traditionellen jüdischen und christlichen Exegese Brisanz, weil es um die Frage geht, ob Kain noch vor oder erst nach dem Sündenfall in oder ausserhalb des Gartens Eden gezeugt und geboren wurde. Es geht in dieser christlich-jüdischen Kontroverse trotz weltgeschichtlicher Bedeutung um ganze vier Stunden, wie ein Vergleich eines jüdischen Midrasch und eines christlichen Traktates zeigt:
 
Midrasch zu Sanhedrin 38b Honorius Augustodunensis, Lucidarium
R. Jochanan bar Chanina sagte: der Tag war zwölf Stunden lang. In der ersten Stunde wurde der Staub gesammelt, in der zweiten der Körper geformt, in der dritten die Glieder ausgestreckt, in der vierten wurde die Seele in den Körper eingefügt, in der fünften Stunde stand er auf seinen Füßen, in der sechsten vergab er Namen, in der siebten wurde er mit Eva zusammengebracht, in der achten Stunde gingen zwei hoch ins Bett und vier gingen wieder herunter, in der neunten Stunde wurde ihnen befohlen, nicht vom Baum zu essen, in der zehnten Stunden sündigten sie, in der elften Stunde wurden sie gerichtet und in der zwölften Stunden wurde er vertrieben. Der Schüler: Wie lange waren sie im Garten von Eden? Der Lehrer: Sieben Stunden. Der Schüler: Warum nicht länger? Der Lehrer: Weil die Frau sie verführte kurz nachdem sie geformt worden war. In der dritten Stunde nach seiner Erschaffung vergab Adam Namen an die Tiere, in der fünften Stunde senkte die frischgeformte Frau ihre Zähne in die verbotene Frucht und bot sie ihrem Mann an und er aß sie aus Liebe zu seiner Frau, was zu ihrer Vertreibung aus dem Garten von Eden durch Gott am Ende der achten Stunde führte.

In jüdischem Verständnis befolgten Adam und Eva im Paradies sofort den göttlichen Mehrungsauftrag, weil sie sonst Übertreter des Mehrungsgebotes geworden wären und kamen mit Kain und Abel wieder aus dem Ehebett. Zwischen Sünde und Geburt gibt es keine Verbindung. In Gen 4,1 würde also nach geläufiger jüdischer Deutung die Erzählung mit der Zeugung Kains nochmals in das Paradies zurückgreifen. Kain, noch "Kind des Paradieses", entscheidet sich wie sein Vater falsch und fällt sozusagen individuell aus dem Paradies heraus. In ADAM und Kain stehen ethische Paradigmata vor dem Leser/Hörer, die die individuelle Verantwortlichkeit einschärfen.

Christliche Exegeten lasen den Text jedoch als konsekutive Fortsetzung von Gen 3 und übersetzten Gen 4,1 in dieser Weise: Erst nach dem Sündenfall zeugten Adam und Eva ihren ältesten Sohn Kain, so dass dieser bereits von Anfang an gezeichnet war von der Ursünde und der Vertreibung aus dem Paradies. Wie sagte doch Hieronymus: "Die Verheirateten füllen die Welt, die Jungfräulichkeit aber das Paradies." Kain kommt nach jüdischer Deutung aus dem Paradies, nach christlicher Deutung nicht, jeweils verbunden mit unterschiedlichen Konzepten über freien Willen, Erbsünde, guten und bösen Trieb, Verständnis der Sexualität etc. Diese Nuancen der Auslegungsgeschichte spielen in der gegenwärtigen Exegese dieser Texte eine geringe Rolle, haben aber in der europäischen Kultur ihre Wirkungen bis in die Gegenwart entfaltet.

Auch in moderner christlichen Exegese wird aus Gen 4,7 geschlossen: "Jahwe sprach zu Kain so, daß er ihm die Beherrschung des Dämons »Sünde als innere Furie« zutraute (V 7). Als Mann Jahwes (V 1) wäre er dem Dämon nicht verfallen, der an der einzigen vorhandenen Tür lauerte: an seiner eigenen (Cassuto). Selbst also, als Kains Gesicht verfiel, gab es noch Zeit, der Macht des Dämons nicht zu verfallen. Aber Kain redete nicht zu Jahwe, sonder zu Hebel und tötete."5

Doch wieder zurück zur heutigen Auslegung dieses Kapitels. Auf literarischer Ebene wird der zweite Teil der Genesis 2,4-4,26, in dem "die menschlichen Figuren .. plastisch als Störenfriede der Schöpfung agieren und sich dabei nicht vom Schöpfergott abhalten lassen"6, von den beiden kosmologischen Teilen in Gen 1,1-2,3 und Gen 5,1-9,29 gerahmt, die über das Motiv der Ähnlichkeit des Menschen zu seinem Schöpfergott verbunden sind.


1 Vgl. Millard, Matthias, Kain - Ethische Evidenz in der Genesis. Ein Element biblischer Ethik in auslegungsgeschichtlicher Perspektive, in: Texte und Kontexte Nr. 22,3 (1999) 3-13; Wright, Terry R.: Midrash and the genesis of modern fiction - Wiesel, Steinbeck and the remarkable Cain. In: Bodendorfer, Gerhard and Millard, Matthias (Hg.), Bibel und Midrasch. Zur Bedeutung der rabbinischen Exegese für die Bibelwissenschaft. (Forschungen zum Alten Testament 22), Tübingen 1998, 235 - 262; Wénin, André: Adam et Eve: La jalousie de Caïn, "semence" du serpent. Un aspect du récit mythique de Genèse 1 - 4. In: Revue des sciences religieuses 73 (1999) 3 - 16;Carr, David: Intratextuality and intertextuality - Joining transmission history and interpretation history in the study of Genesis. In: Bodendorfer, Gerhard / Millard, Matthias (Hg.), Bibel und Midrasch. Zur Bedeutung der rabbinischen Exegese für die Bibelwissenschaft (Forschungen zum Alten Testament 22), Tübingen 1998, 97 - 112.

2 Über die Frage, woher die Frauen der Söhne des Urmenschenpaares kommen sollen, machen sich die Erzähler keine Gedanken und setzen sie für den Ablauf der Geschichte als vorhanden voraus. Gerade das zeigt den mythischen Charakter, den diese Einzelerzählung im Zusammenhang der Genesis gewonnen hat.

3 Vgl. Seebass, Horst, Genesis I. Urgeschichte (1,1-11,26), Neukirchen-Vluyn 1996, 160-161; Löning, Karl/ Zenger, Erich, Als Anfang schuf Gott. Biblische Schöpfungstheologien, Düsseldorf 1997, 140.

4 vgl. Touitou, Elazar, Rashi's Commentary on Genesis 1-6 in the Context of Judeo-Christian Controversy, in: Hebrew Union College Annual 61 (1990) 159-183; Naeh, Shlomo: Freedom and celibacy: A talmudic variation on tales of temptation and fall in Genesis and its Syrian background. In: Frishman, Judith / Rompay, Lucas van (Hg.), The book of genesis in Jewish and oriental Christian interpretation. A collection of essays (Traditio Exegetica Graeca 5), Louvain 1997, 73 - 89 sowie die ersten vier Hefte der Zeitschrift TENACHON (publiziert seit 1998 von der Evangelischen Kirche des Rheinlandes), die der jüdischen Leseordnung entlang mit dem Buch Genesis beginnend jüdische Auslegungen zu den Schrifttexten zusammenstellt und erläutert.

5 Seebass, Horst, Genesis I. Urgeschichte (1,1-11,26), Neukirchen-Vluyn 1996, 160-161; Löning, Karl/ Zenger, Erich, Als Anfang schuf Gott. Biblische Schöpfungstheologien, Düsseldorf 1997, 146.

6 Löning / Zenger, Als Anfang schuf Gott, 141.

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Vini Rahn <Vinicaracciolo@aol.com> kommentiert:
Wo liegt heute der Garten Eden genau? Ströme Pischon, Gihon, Tigris, Euphrat Wer weis das?

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