Ecclesia digitalis

Mein Internet-Tagebuch 1995

von
Franz Böhmisch
"Hier begegnen einander zwei Welten:
die zweitausendjährige Institution mit ihren mystischen Ritualen und ehernen Gesetzen
- und der zeitgeistige Journalist am Internet-verbundenen Schreibcomputer.
Das wäre ein spannender und vermutlich sogar kreativer Gegensatz,
wenn die "Kontrahenten" damit offen und gelassen umgehen könnten."

Peter Paul Kaspar, Das Schweigen des Kardinals und das Begehren des Kirchenvolkes,
Kulturverlag Thaur: Thaur - Wien - München 1995, S. 82.

Die Entdeckung der Langsamkeit und die Hektik des Internet

Ich liebe Tagebücher. Tagebücher sind ein Luxus der Langsamkeit, des Wiederholens und Erinnerns in einem Sturm von Hektik und Aktivität. Tagebücher brauchen Zeit. Abends sich hinsetzen und schreiben, was war, ist ein Genuß.

Internet dagegen heißt: jede Stunde neue Informationen, Dutzende Briefe pro Tag, Konversationsperioden von wenigen Stunden, wo früher Wochen einhergingen, deadlines und permanent Neuigkeiten. Die Perfektion des Zehnfingersystems wird zur Überlebensfrage und jenseits der Höflichkeit entsteht die drängende Frage, wessen email man beantworten muß und wer diese Freundlichkeit nicht erwartet. 20 x (Nachdenken + Recherchieren + Tippen) = Kommunikations-Tagespensum. Man wird verstehen: Internet und Tagebuch schließen sich aus.

Ich habe nun den Test nicht gemacht, ob es im Internet schon Diaries oder Tagebücher zu finden gibt, das überlasse ich Ihnen ... Ich versuche der Schnelligkeit des Internet zum Trotz aus den emails, den Tagebuchnotizen und den Erinnerungen des vergangenen Jahres mein Internet-Tagebuch zusammenzustellen. Im Buchgewerbe erlebte die Publikation von Tagebüchern gerade eine Renaissance. Keine Literaturseite, kein Fouilleton ohne eine Referenz an dieses Genre. Vielleicht ist es die Sehnsucht nach dem bewußten Erleben des Verlebens der Zeit, das hinter dieser Entwicklung steckt. Wer wie ich das Internet-Boom-Jahr 1995 mit viel Aktivität im Netz durchlebte, hat vielleicht ebenso das Gefühl, daß es ein Innehalten braucht, ein Nachlesen dessen, was geschah. Wer gerade dazustößt, mag froh sein über die Gelegenheit, den Weg nachzugehen.
Ein Jahr WWW im Zeitraffer ...

Anfragen von Theologinnen und Theologen

In den letzten Monaten kamen viele Anfragen von Theologinnen und Theologen aus anderen Fakultäten, wie man am besten eigene WWW-Seiten aufbauen kann. Aus Zeitmangel konnte ich nur kurz antworten und kaum auf die konkreten Detailprobleme eingehen. Auch die folgenden Einträge werden darauf nur wenig Antworten parat haben, da die Situation überall anders ist.

Mit diesem Tagebuch möchte ich zudem zum Abschluß meiner WWW- Verwalter-Tätigkeit:

Das Dokumentationsproblem in der Entwicklung des Internet

Ein weiteres Problem löst ein Tagebuch nebenbei. Es wird aus dokumentarischen Gründen nicht mehr überarbeitet, sondern nur noch ergänzt. Damit kann es eine wichtige Funktion im Internet übernehmen. Es ist nämlich eine meiner Erfahrungen, daß im Internet wenig Geschichtsbewußtsein herrscht (vgl. aber Der Internaut) und ein einmal erreichter Status nur kurze Zeit später nicht mehr zu rekonstruieren ist, da die älteren Versionen der Daten nicht aufbewahrt werden. Ein Theologe, der auf Jahrtausende zurückblickt, mit Keilschrifttafeln, Pergamenten und Papyrus, Handschriften und Inkunabeln, Büchern und Computerprogrammen zu tun hat, entwickelt notgedrungen ein Geschichtsbewußtsein auch für Medien. Mein Kollege Hans Käser wies mich oft darauf hin, daß das Buch als statisches Dokumentationsmedium den Netzwerken und Digitalmedien (Disketten, CD-ROM, Wechselfestplatten) weit überlegen ist. Um ein Digitalmedium archivieren zu können, muß man die nötige Gerätschaft, die Codierungsstandards und Druckertreiber, die Bearbeitungssoftware und evtl. auch Peripheriegeräte aufbewahren. Was nützen mir z.B. die 50 Apple/McIntosh Disketten, die ich aus dem Nachlaß des verstorbenen Exegeten Prof. Dr. Günter Krinetzki sicherstellen konnte, wenn das dafür in den 70er Jahren von Physikstudenten eigens geschaffene Computerprogramm verloren gegangen ist? Mit komplizierten Konvertierungsverfahren, in denen die Codierung der Sprachen Griechisch, Hebräisch, Syrisch und Arabisch zu rekonstruieren ist, kann ich mich als Exeget nicht belasten. Daher mein erster Rat: Archivieren Sie in Ihren Fakultäten nicht nur Papierpublikationen, sondern auch die EDV-Ressourcen, mit Hilfe derer an Ihrer Institution gearbeitet wurde. Ein Beispiel: Viele Exegetinnen und Exegeten in Deutschland nutzten zum Entwurf Ihrer Dissertation und Habilitation die Programme WORD5 auf DOS und das Zusatzprogramm LOGOS. Für den Ausdruck einer Druckvorlage für eine zweite Auflage muß manspäter auf dieses nun schnell veraltende System zurückgreifen und ist froh, die entsprechende Software nicht aus dem Computersystem entfernt zu haben.

Ein großes Problem scheint diesbezüglich zu sein, daß die Rechte für die Texte bei den Verlagen liegen, diese (zumindest die in der Theologie relevanten) sich jedoch um die digitale Dokumentation nicht im Geringsten kümmern. Jede wissenschaftliche Arbeit der letzten 10 Jahre wurde auf Computersystemen entworfen, es existiert jedoch weder bei den Verlagen noch in Zentren des deutschen Wissenschaftssystems ein Archiv der Digitalmedien und digitalen Hilfmittel (wenn es anders sein sollte, berichtigen Sie mich bitte).

Die auf Disketten bei den Autoren gesicherten Datenbestände sollten ebenso gesichert werden, wie es üblich ist, Belegexemplare wissenschaftlicher Arbeiten in Bibliotheken einzustellen.

Kurzbeschreibung von Diensten (Clients) im Internet

Eine Kurzbeschreibung der Internetdienste mag zunächst eine gute Hilfe sein:
telnet (rlogin): Den eigenen Computer als dummes Terminal für die Arbeit mit einem weit entfernten Computer benutzen.
netnews:Um Mitteilungen aus den newsgroups (Foren) des USENET zu lesen und darin zu posten.
email:Elektronische Briefe schicken, empfangen und kommentiert zurückschicken.
finger:Angaben über Kennung der Netzteilnehmer suchen.
mailinglist:Subskribieren, Briefe an zentrale Verteileradresse schicken und Briefe der anderen Subskribenten von dort empfangen.
ftp:"file transfer protocol": Dateien aus anderem Computer holen oder dort ablegen.
archie:Dateinamen nach Stichwort im Internet suchen.
gopher:Hierarchisches menuegeführtes Verzeichnisstruktur von Dateien.
veronica:gopher-Menütitel nach Stichworten suchen.
WAIS:Volltextsuche
World Wide Web:Hypertextstruktur von Dateien mit frei definierbaren Verknüpfungen zu anderen Dateien. Benutzt http ("hypertext transfer protocol"): Konvention (Protokoll) der Dateivernetzung im WWW.
Search Engine:Programm im WWW zum Suchen nach Stichworten.

Der Weg ins Internet

November 1994
Angeregt von einem Lehrauftrag an der Katholisch-Theologischen Fakultät in Linz zum Thema "Von der Handschrift zum File. Computereinsatz in der Exegese" im WS 94/95, in dessen Verlauf neben der Arbeit mit Computerprogrammen zur Bibel auch die Nutzung der Kommunikationsstrukturen im Internet zum Thema wurde, beantragte ich im Rechenzentrum der Universität Passau die Einrichtung einer lokalen newsgroup für Theologie, die schließlich im November 1994 unter dem Namen uni-passau.theologie.misc eingerichtet wurde und nur in Passau gelesen werden kann. In Passau stellte das Rechenzentrum für alle Fakultäten bereits die Netzdienste zur Verfügung, so daß es nicht mehr nötig war, um die Installation eines Netzsystems und den Anschluß an das Internet zu kämpfen. Ich hoffe, mit den Passauer WWW-Seiten für Theologie Anschauungsmaterial zur Verfügung gestellt zu haben, das auch dazu dienen kann, zweifelnde kirchliche oder staatliche Geldgeber mit Demo-Vorführungen zu überzeugen, daß die Einrichtung dieser Kommunikationsstrukturen für die Zukunft der Theologie und der Kirchen wichtig ist ...

Um solche Demo-Vorführungen durchführen zu können, genügt es übrigens, daß Ihnen jemand, der Zugang zum Internet hat, die HTML-Dateien auf Diskette speichert und Sie sich ein HTML-Leseprogramm besorgen, das Dateien im HTML-Format anzeigen kann, ohne eine Internetverbindung aufbauen zu müssen.

Nach erfolgreicher Etablierung der newsgroup versuchte ich in Passau ein Internet-Colloquium Theologie zu begründen, was leider nicht gelang.

Dezember 1994
Ende Dezember ging an alle Lehrstühle, Studierende und Leser der newsgroup eine email-Nachricht mit dem Aufruf zur Mitarbeit an einem Internet-Colloquium Theologie.
Diese Initiative hatte aus mehreren Gründen keinen Erfolg, die zu wissen für Aktivisten an anderen Institutionen manchen Frust vermeiden helfen kann:
Die Katholisch-theologische Fakultät der Uni Passau im WWW
Die Fakultät für Mathematik und Informatik (FMI) der Uni Passau war unter den ersten, die in den WWW eingestiegen waren. Bereits 1993 entwarfen Informatiker HTML-Seiten, installierten einen http-Server und bauten in universitäres Informationssystem neben dem schon vorher existierenden gopher des Rechenzentrums (RZ) auf. Die Strukturen und technischen Voraussetzungen waren also auch für den WWW schon gegeben und daher nicht nötig, neben der Internetverbindung über TCP/IP auch noch die Serversoftware zu besorgen, zu installieren und zu konfigurieren. Mittlerweile ist das sogar mit PCs möglich, die man - so die Empfehlung vieler Fachleute - unter LINUX laufen lassen sollte, das man fast kostenlos erhalten kann. Da ich für einen Aufsatz "Mit der Bibel ins Internet-Zeitalter" in der Linzer "Theologisch-Praktischen Quartalschrift (ThPQ)" Informationen zur Codierung von Fremdsprachen brauchte, fragte ich in den lokalen newsgroups nach Adressen und Informationen und erhielt, wofür ich mich herzlich bedanken möchte, von Martin Ramsch die ersten Informationen aus seinen bookmarks , die bis heute ein großartiger Informationspool sind, den ich nur empfehlen kann.

YAHOO Religion war einer seiner wichtigsten Tips, damals, als diese Initiative noch ein studentisches Abenteuer war und edu statt com im URL stand ...

Januar 1995
Nun gab es auch ein offizielles Placet vom Dekan der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität durch ein Schreiben an den Dekan der FMI mit einer offiziellen Bestätigung, für die Fakultät WWW-Seiten im Server einhängen zu dürfen. Ich mußte dazu jedoch Grundkenntnisse in UNIX erlernen, dem Betriebssystem, das auf dem Passauer WWW-Server läuft. Dipl. theol. Andreas Schwenzer in Würzburg war kurz vorher mit einer interessanten Liste von theologischen Fakultäten und Bibliotheken ins Netz gegangen.
Februar 1995
Am 7. Februar 1995 konnte der Einstieg ins WWW losgehen. Dipl. Inf. Klaus Schießl (FMI) stellte die ersten Theologieseiten in Passau in den Server. Man lernt recht schnell, HTML-Seiten zu schreiben. Zu der Zeit gab es noch keine Tabellen, HTML 2 war der Standard - wiewohl noch nicht als Standard verabschiedet. Ich schrieb alle HTML-Seiten ohne HTML-Editoren unter der Benutzung von Makros, die Umlaute und Sonderzeiche automatisch in ISO8859-1 umwandeln. Anschließend werden die Dateien per ftp zum WWW- Server transferiert und dort in die Unterverzeichnisse eingebaut. Mit chmod o+r werden die Zugriffsrechte auch für Leute, die nicht Mitglieder der WWW-Verwalter hier in Passau sind, freigegeben und schon besteht freier Lese- Zugriff über den WWW auf diese Daten. Nicht in HTML codierte Seiten pflege ich bisher im Verzeichnis netztheologie einzustellen, zunehmend jedoch im neuen Archiv der Katholisch-Theologischen Fakultät auf dem Server MABUSE, wohin Sie auch selber Dateien über anonymous ftp stellen können!
 
ftp-Server: mabuse.phil.uni-passau.de 
Pfad: cd home/pub/theologie/incoming 
put Ihre.Datei 

Durch eigene Suche und die Hinweise von Martin Ramsch kam ich zu den Metaseiten, die ich zum Ausgangspunkt der ersten International Bible and Theology Gateways machte:

Fast lauter Verweise auf englischsprachige Seiten, vormals in HTML 2.0 kodiert und manchmal effektiver, als nach der heutigen Aufteilung in verschiedene Dateien ,was vielleicht auch auf meine Bibelwissenschaftsseite zutreffen mag. Deutschsprachig existierte damals das Verzeichnis deutschsprachiger theologischer Fakultäten und ein Verzeichnis von katholischen und evangelischen Fakultäten in Deutschland.

Auch ein Verweis zu The Church and the Computer Culture , einem Vortrag von Papst Johannes Paul II. zum Weltkommunikationstag 1989, gehörte von Anfang an zu den Überblicksseiten, um so etwas wie ein fortschrittliches Medienbewußtsein der Kirche zu signalisieren. Theorie und Praxis liegen jedoch weit auseinander ...

Den gopher, in dem schon Jahre lang theologische Informationen eingespeist worden waren, habe ich bis heute weitgehend nur dann berücksichtigt, wenn die Daten bleibend wichtig sind. Durch die Integration aller Dienste in den WWW nach dem Codierungsprinzip:

 
protocol://server/pfad/dateiname.dateikennzeichen#marke
können auch ftp und gopher etc. bequem in HTML-Dateien integriert werden. Eine wichtige theologische Quelle bis heute ist der Electronic Mystics Guide (geänderter URL), der so etwas wie eine Summe des theologischen Diskurses im Netz bis 1993 darstellt.

Ähnliches gilt für den ftp-Bereich für wuarchive.wustl.edu mit Bibeln und anderer wichtiger Literatur zum Bereich Religion. Mein Wissen über das Internet bezog ich anfangs aus der Arbeit von Christian Falckenberg: Internet - Spielzeug oder Werkzeug? Einführung in Grundlagen und Anwendungen mit Diskussion sozialer und gesellschaftlicher Aspekte. Im Verlauf des Proseminars zu Computereinsatz in der Exegese kamen dann laufend Funde theologisch interssanter Seiten dazu: Die Bodleian Library in Oxford und ihr ftp-Server oder der israelische Netzprovider Netvision , die Levant Cultural Mulitmedia Servers, der mittlerweise ebenfalls eine neue Adresse hat.

Kabbalah Software gab mir einen Begriff davon, was schon an hebräischen Texten digital angeboten wurde und wie das Internet zur Vermarktung beiträgt.

Ich war damals noch fleißiger Leser der newsgroup soc.religion.christian.bible- study und erhielt aus dieser Liste fast keine interessante Information außer das Bible Software FAQ von Shawn G. Abigail, eine grandiose Übersicht über lieferbare Bibelsoftware, die monatlich up to date gebracht wurde. Leider fand ich seit Mai 1995 bis Januar 1996 keine neue Version mehr, bis ich Ende Januar über die WWW-Seite eines norwegischen Kollegen wieder darauf stieß.

Prof. Dr. Pierfelice Tagliacarne (Uni Eichstätt) schickte eines Tages per email den Georgetown Catalogue of Projects in Electronic Text in zwei Teilen, da er für unsere mail-Programme etwas zu lang war. Ich baute ihn wieder zusammen und archivierte ihn nach der Maxime: Laß keine Information mehr verschollen gehen! Dieser Katalog ist eine gute Ergänzung zum Buch von John J. Hughes: Bits, bytes, and biblical studies: a Resource Guide for the Use of Computers in Biblical und Classical Studies, Grand Rapids, Michigan 1987 und gibt eine Basisinformation über die Institutionen, die an Kodierung und Analyse der Bibel und verwandter Texte arbeiten.

Über die soc.culture.jewish erhielt ich die ersten Informationen über jüdische Internetaktivitäten und las vor allem die FAQs aus soc.culture.jewish mit Gewinn.

Ganz nervös wurde ich, als ich auf eine Ausstellung orientalischer Handschriften aus der Vatikanbibliothek stieß, die mein Exegetenherz höher schlagen ließen. Wie ich neulich in der Zeitschrift "Die Welt" gelesen habe, wird zur Zeit die Handschriftenabteilung der Vatikanbibliothek sehr professionell und auch kommerziell, wie wir das von Rom her kennen (man pflegt Papstbücher bei nichtkatholischen Verlagen zu verlegen, weil das mehr Geld bringt), digitalisiert. Das Book of Kells in Dublin war für einen Liebhaber illuminierter Handschriften genauso interessant wie später eine Demo des theologischen Programms des Bilderzyklus von Michelangelo in der Sixtinischen Kapelle , der nach einem Autor übrigens von Nicolaus de Lyra , einem der berühmtesten ma. Exegeten, beeinflußt sein soll. Ungefähr zur selben Zeit im Frühjahr 1995 konnte ich im Stift Reichersberg das Original des Bibelkomentars Gerhoh von Reichersbergs bewundern und kam auf den Gedanken, die Klöster des ehemaligen oder wenigstens des noch bestehenden Rumpfbistums Passau mit seinen Bibliotheken über WWW zu inventarisieren. Diese Arbeit steht noch aus, wenn auch mit einer Karte des Bistums Passau schon ein Anfang gemacht wurde. Reichersberg, Metten, Niederalteich ... wären wunderschöne Objekte für WWW-Seiten, aber erst sollen mal die Diözesen ihre Hausaufgaben machen und kirchliche WWW-Server bereitstellen.

April 1995
Am 16. April 1995 wurde auf einer Pressekonferenz die Idee eines Kirchenvolksbegehrens für die katholische Kirche Österreichs vorgestellt. Die Affäre um den damaligen Erzbischof von Wien, Kardinal Groer, war in der heißesten Phase. In den amerikanischen Mailinglists kamen Fragen über Fragen, was da denn eigentlich los sei. In der Tat braute sich in Österreich ein Kirchenkonflikt zusammen, der sich noch gewaltig entladen sollte. Doch zurück zu der Frage des Einstiegs der Kirchen und der Theologie ins Internet.

Als Exeget interssierte mich natürlich besonders alles, was zu Qumran im Internet veröffentlicht wurde. 1994 gab es in den USA eine Qumran-Ausstellung , die auf dem Höhepunkt der Auseinandersetzung um die schleppende Edition der Handschriften durch zögerliche Wissenschaftler die Stimmung wieder aufhellen sollte. Diese Ausstellung wurde durch einen WWW-Katalog für die Öffentlichkeit aufgeschlüsselt. Sogar das damals sensationelle Fragment aus MMT (Miqzat Ma'aseh Hattora) war eingescannt und im WWW veröffentlicht worden. Und Prof. Abercombie begann gerade Ende März mit der Veröffentlichung von Bildmaterial zum Alten Orient.

Für einen Aufsatz der ThPQ Linz zum Thema "Bibel und Computer", den Prof. Niewiadomski für das Juli-Heft angefordert hatte, suchten mein Kollege Christian Dandl (Linz) und ich seine Kontakte wiederbeleben, die er zu Prof. Talstra in Amsterdam gepflegt hatte, als er zwei Jahre vorher die Diplomarbeit zu "Bibel und Computer" schrieb. Es war verblüffend, wie schnell wir mit finger und anderen Suchmethoden die email-Adresse von Prof. Talstra in Amsterdam herausgefunden hatten und eine Grußadresse losschickten, die er auch prompt beantwortete. Ähnliches wiederfuhr mir mit Prof. A.A. DiLella (Washington), der den renomiertesten Kommentar zu Ben Sira (Jesus Sirach) geschrieben hat. In der damals noch einzigen Franziskanerliste ASSISI-L schrieb er über eine neue englische Bibelübersetzung. Ich schrieb eine mail mit der Bitte, Kontakt zu einem Promoventen von ihm herzustellen. Seitdem können wir über den Teich Tips austauschen, die unsere Arbeit betreffen. Versuche, deutsche Professoren übers Netz zu erreichen, sind weniger aussichtsreich.

Ich nannte gerade die Franziskanermailinglist. Die Orden waren die ersten in der Kirche, die die Bedeutung der Netze für ihre weltweite Arbeit erkannten. Franziskaner, Dominikaner und Jesuiten waren Anfang 1995 bereits präsent, Benediktiner, Salesianer und andere kamen im Lauf des Jahres hinzu. Die Franziskaner haben mittlerweile sogar fünf mailinglists laufen, um die Kommunikation der Ordensmitglieder zu organisieren. Das Niveau von Assisi-L ist mittlerweile ziemlich gesunken, weshalb mit FNET-L eine neue Liste speziell für organisatorische Aktivitäten der Franziskaner gegründet wurde.

In Englisch kann man über die Liste Catholic Resources on the net und sonstige Verweiszusammenstellungen (siehe Gateways) Augustinus, Thomas von Kempen und andere religiöse Weltliteratur auffinden oder auch die Enzykliken des Papstes.

Für die Entwicklung der Passauer WWW-Seiten besonders wichtig waren Kontakte zu Matthias Wagner, einem evangelischen Pastor in Ach an der Salzach (A) gegenüber Burghausen (BRD), der in der mailbox Churchmail mitarbeitet, und Rolf-Valentin Jouaux , der eines Tages mit dem Angebot per email an mich herantrat, ob wir nicht Radio Vaticana Kurznachrichten im Server einhaengen könnten. Das war für alle eine gute Sache, für RV, weil sie im WWW präsent waren, für die Passauer WWW-Seiten, weil das etwas war, was selbst die amerikanischen Fakultäten bisher nicht bieten konnten und promt dazu führte, daß wir in die einschlägigen amerikanischen Listen gerieten. Versuchen Sie mal, ihre fertigen WWW-Seiten in die wichtigen Verteilerlisten Ihres Fachgebietes zu bringen! Für mich brachten die RV-Kurznachrichten leider das Problem mit sich, daß ich die mails meines Kollegen mit gewisser Regelmäßigkeit zweimal in der Woche im Server einhängen mußte.

Auf die mailbox Churchmail, die damals über Internet nicht zugängig war, mittlerweile jedoch einen ftp-Server betreibt, waren wir in Passau bei der MISEREOR-Auftaktveranstaltung im Februar 1995 zum Thema: Good News from Africa gestoßen, wozu Hans Käser , Jakob Schöffberger und ich ein multimediales Computerprogramm geschrieben hatten. Herr Stricker von MISEREOR machte uns auf Churchmail aufmerksam und auf meine Nachfrage im USENET meldete sich der evangelische Pastor Matthias Wagner, der auch das Informationsmaterial zur ökumenischen mailbox Churchmail immer wieder aktualisiert nach Passau geschickt hat, wofür ich ihm sehr dankbar bin. Hier ist eine gute Stelle, um das Vorurteil aufzugreifen, daß die Tätigkeit am Computer Einsamkeit erzeuge. Durch empirische Untersuchungen ist dieses Vorurteil ebenso wiederlegt, wie durch die eigenen Erfahrungen: Unser Afrika-Quiz war ein Magnet für viele Jugendliche, die gemeinsam vor dem Bildschirm saßen und Wetten zur Länderkunde Afrikas abschlossen. Ob Computerprogramme Kommunikation oder Einsamkeit erzeugen, hängt auch wesentlich von deren Gestaltung, den Inhalten und der Begleitung ab. Wenn den Jugendlichen nichts anderes zur Verfügung steht als Ballerspiele, brauchen wir uns über die Konsequenzen nicht zu wundern. Gute religiöse Programme führen zu Kooperation. Ebenso führen Netzkontakte irgendwann zu persönlichen Begegnungen, die dann ganz reizvoll ausfallen können, weil man sich schon ein Bild vom Gegenüber gemacht hat.

Was Churchmail betrifft, hoffe ich, daß diese mailbox beizeiten auf Internetstandards umsteigt und per telnet zugänglich ist, da Netzkenner prophezeien, daß es in zwei Jahren das jetzige mailbox-system ohne Internet-Anbindung kaum noch geben wird. Pfarrer Gerhard Reinders hat neulich per email das Problem angesprochen, daß man die Angebote kaum noch überschaue und keiner mehr von den neuen Schritten des anderen weiß. Es ist daher m. E. dringend notwendig, wie in den USA ein Netzwerk der christlichen Netze zu gründen:

In den USA gibt es weitverzweigte christliche Netzwerke, die sich zum Ecunet zusammengeschlossen haben. Kaum eine katholische Diözese ohne HomePage! Ich verstehe nicht, warum in Deutschland bisher kaum offizielle Anstalten gemacht wurden, Kirche in die Netzkultur zu plazieren. 1996 sollen jedoch Aktivitäten der katholischen Medienarbeit starten. Bis jetzt ist die einzig erwähnenswerte professionelle deutschsprachige katholische Medieninstitution KATHPRESS in Wien (A). Die Arbeit in WWW und Internet ist m.E. eigentlich eine originäre Aufgabe der professionellen Medienarbeit.

Mai 1995
Juni 1995
Juli 1995 - Der Streit um de.sci.theologie beginnt
Am 8. Juli 1995 startete der Passauer Theologiestudent Michael Brunn einen RfD (Request for Discussion) über eine wissenschaftliche Diskussionsgruppe zu Theologie im Usenet. Es war kaum zu ahnen, daß dieser RfD so kontrovers diskutiert werden würde. Zwar besitzt das Netz Netiquette und Regeln, aber diese Regeln sind nicht rechtlich einklagbar. Wenige engagierte Netznutzer, die Theologie nicht für eine Wissenschaft halten und auch nicht mehr im Fächerkanon der Universitäten haben wollen, versuchten mit viel Eifer, die Gründung dieser Gruppe zu verhindern. Plötzlich sollten die Theologen die Wissenschaftlichkeit ihres Fachs beweisen, bevor die Gruppe in der sci-Hierarchie eingeordnet werden könnte. Oft wurde dabei das Wissenschaftsverständnis des angelsächsischen Raums herangezogen, wo science Naturwissenschaften meint und die Geisteswissenschaften unter humanities fallen. Dagegen wäre prinzipiell nicht sehr viel einzuwenden gewesen - die Titulatur Wissenschaft ist auch nur eine Sprachregelung -, wenn nicht unmittelbar vorher Psychologie und Pädagogik eine Gruppe in der sci-Hierarchie erhalten hätten, ohne daß solche Streitfragen auftauchten. Es ging m.E. schlicht darum, Theologie aus dem adäquaten Bereich des USENET auszugrenzen.
  • Die Katholische Glaubensinformation geht als ein Angebot der KTF der Uni Passau ins Netz.
    August und September 1995
    Urlaub reduzierte allerorten die Internet-Aktivität, wie sich auch an der Statistik der WWW-Zugriffe der Theologie-Seiten am Passauer WWW-Server ablesen läßt. Eine Israelreise verhinderte mich zudem, das Geschehen zu verfolgen. In dieser Zeit scheint die Diskussion über de.sci.theologie eine heiße Phase erlebt zu haben - die Initiative schien an der ablehnenden Haltung von nur wenigen Gegner zu scheitern. Die Diskussionen kreisten immer um dieselben Themen und wiederholten so manche Polemik (von beiden Seiten).

    Der RfD wurde dreimal durchgeführt (zweimal ist die Regel) und dann von Martin Recke ein CfV (Call for Vote) im Usenet eingebracht. Als nach dem zweiten Call for Vote das Verfahren durch die Wahl eigentlich abgeschlossen war, kam plötzlich noch ein Einspruch wegen angeblicher Formmängel. Der Moderator der Liste de.admin.news.groups zögerte daher mit der Einrichtung der newsgroup. Kurz vor Weihnachten, am 21. Dezember 1995, wurde der newgroup-Aufruf losgeschickt. Mittlerweile ist die Gruppe schon lebendiger und wird in Deutschland und Österreich (Graz) in den newsservern geführt.

    Oktober 1995
    November 1995
    Dezember 1995
    Januar 1996
    Michael Brunn tritt nun als neuer WWW- Verwalter der Katholisch-theologischen Fakultät Passau seinen Dienst an. Er ist daher die richtige Adresse für Vorschläge oder Änderungswünsche.

    Für Schullehrer des Landes Oberösterreich entsteht gerade in Linz am Institut für Schule und neue Technologien ein WWW-Server, bei dessen inhaltlicher Gestaltung ich nun mitarbeiten werde.

    Neben den WWW-Seiten für Religionslehrer werde ich weiterhin Seiten zu Bibelwissenschaft betreuen. Ob diese Seiten in Passau oder in Linz fortgeführt werden, wird sich zeigen, indem Sie klicken ...

    Mit herzlichem Gruß,

    Franz Böhmisch

    KTF Uni Passau Theology Gateways Autor: Franz Böhmisch

    Version 1 vom 2.2.1996

    http://www.ktf.uni-passau.de/mitarbeiter/boehmisch/tagebuch.html