Magne Sæbø (Hg.), Hebrew Bible / Old Testament. The History of Its Interpretation, Vol.1: From the Beginnings to the Middle Ages (Until 1300), in Cooperation with Chris Brekelmans and Menahem Haran, Part 1: Antiquity [HBOT 1,1], Göttingen 1996 (Vandenhoeck und Ruprecht), ISBN 3-525-53636-4, gebunden, 847 Seiten, 210,- DM.

mit freundlicher Erlaubnis von Prof. Dr. A. Fuchs aus SNTU 22 (1997) 221-226.



Diese Gesamtgeschichte der Schriftauslegung des Alten Testaments (HBOT) will an Vorgänger aus dem 19. Jh. anknüpfen (L. Diestel 1869; F. W. Farrar 1886) und damit eine Lücke schließen. Erst jetzt scheint wieder die Zeit für eine auslegungsgeschichtliche Zusammenschau gekommen zu sein (vgl. auch die Auslegungsgeschichte von H. G. Reventlow).

Die gegenwärtige exegetische Situation schlägt sich in diesem auf drei Bände (fünf Teilbände) angelegten Werk in mehrfacher Weise nieder: 1. Die Auslegungsgeschichte setzt im AT selbst ein. 2. Erstmals finden sich in einer Geschichte der Exegese jüdische und christliche Exegeten zusammen, um die interdependente Auslegungsgeschichte in Judentum und Christentum gemeinsam zu entwerfen, so daß der christlich-jüdische Dialog auch hier fruchtbar werden kann. Die Aufteilung des ersten Teilbandes in "A. Beginnings of Scriptural Interpretation" und "B. Parting of the Ways: Jewish and Christian Scriptural Interpretation in Antiquity" signalisiert, daß sich in der Exegese und ihren Methoden eine gemeinsame Wurzel feststellen läßt, aus der heraus aber dann jede Gruppe eigene Wege einschlug. 3. Die bisher dominante eurozentrische Sicht der Auslegungsgeschichte von der lateinischen Westkirche her ist ein Stück weit aufgebrochen, indem die syrische Auslegungstradition aufgenommen ist. 4. Die Auslegungsgeschichte wird aufgespalten und hier nur in einer Geschichte der Auslegung des Alten Testaments realisiert, was m.E. ein Problem darstellt, weil dies dem Selbstverständnis der dargestellten Exegesetraditionen (christlich wie jüdisch) über einen langen Zeitraum hinweg nicht entspricht. Es ist eine Reprojektion der gegenwärtigen akademischen Situation und wissenschaftlichen Arbeitsteilung, die jedoch in den Einzelbeiträgen unvermeidlich doch wieder aufbricht, wo es um den Kontext in der Religionsgemeinschaft geht (Neusner, Hübner).

Der Herausgeber M. Sæbø diskutiert zu Beginn des Werkes (19-30) historiographische Probleme, die zu einer themenorientierten Darstellung statt der bisher üblichen personorientierten Darstellung geführt haben. Er definiert als Objekt von HBOT die Interpretations- und Rezeptionsgeschichte der Bibel (und nicht die Wirkungsgeschichte auf allen kulturellen Feldern) als "History of the study of the Bible". Er diskutiert die verschiedenen Entwürfe von Exegesegeschichte bei Diestel, Farrar, Kraus, Kraeling und Reventlow und hebt HBOT davon ab, wobei er zurecht das Problem der fragmentation aufgrund der vielen Mitarbeiter durch den straffen Editionsplan entschärft sieht. Am Ende des Bandes (731-745) faßt er in einem Epilog die Ergebnisse zusammen und stellt sie unter das Generalthema "Church and Synagogue as the Respective Matrix of the Development of an Authoritative Bible Interpretation". Es findet sich jedoch im ganzen Band nur wenig Reflexion darüber, welche Relevanz Auslegungsgeschichte für die gegenwärtige Exegese hat. Der Aufbau ist einsichtig und die Mitarbeiterschar von weltweit angesehenen Fachleuten besetzt.

Zunächst beschreibt M. Fishbane die innerbiblische Exegese (im Alten Testament), die Textgeschichte der hebräischen Bibel wird von E. Tov vorgestellt. - J. Barton kritisiert die Unschärfen in der gegenwärtigen Kanondiskussion, referiert die Hauptpositionen und reiht sich in die Linie Sundbergs ein, der den dritten Kanonteil noch im 1. Jh. n. Chr. als offen betrachtet. Schriftverehrung und Kanon sind zu trennen; Schriften oder auch Schriftensammlungen können lange schon Ansehen genießen (Pentateuch), bevor ein fixierter Kanon andere Schriften definitiv ausschließt (70). Der Kanonbegriff sollte für das exklusive Verständnis verwendet werden. Davon abzuheben ist die Sicht des Kanons als theologisches Arrangement der Schriften: "Modern movements such as 'canonical criticism' have sought to make the canonicity of Scripture - the codification of exactly these books - important for theological interpretation. This is an important line of argument in a modern theological context, but there are few signs that it was very significant in antiquity" (82-83). - J. W. Wevers beschreibt den interpretativen Charakter der Septuaginta und beginnt mit der Frage nach dem Grundtext der LXX. Er stellt die wichtigen Fragen: "Does the significance of the Greek version lie chiefly in its value in reconstructing an earlier (or at least another) text than that of MT [Masoretic Text]?... Is it not preferable to consider both OG [Old Greek] and MT canonical texts in their own right?" (87). Ein Überblick über die verschiedenen griechischen Übersetzungstraditionen und Rezensionen führt Wevers zu dem Schluß, es hätte keinen Sinn, "to attempt to describe the interpretative character of such a diverse group of renderings as OG represents" (95). Er diskutiert daher nur eine Übersetzung (Genesis), diese aber dafür an zahlreichen instruktiven Beispielen. Die Übersetzung der hebräischen Bibel ins Griechische war nach Wevers eine einzigartige Innovation, weil erstmalig und ohne Vorbild Texte aus einer semitischen Sprache ins Griechische zu übersetzen waren (anders M. Rösel), die noch dazu den Übersetzern bereits als kanonisch galten. Auf seine eingangs gestellten Fragen gibt er schließlich die Antwort "that the Greek Pentateuch is a humanistic document of interest by and for itself, i.e. without reference to its parent text" (95, vgl. auch 107). - J. Maier verantwortet den Abschnitt über die Bibelinterpretation in der Qumranliteratur. Folgt man seiner auch in deutschsprachigen Artikeln schon vertretenen Revision des Verständnisses der Wurzel "darasch" und des Ausdrucks "doresch hat-Tora", der nicht als "Tora-Ausleger", sondern als "Tora-Erteiler" im ursprünglicheren Sinne des priesterlichen Toraerteilungsmonopols (Dtn 17,8-12) zu verstehen ist (116), dann hat auch dem "Lehrer der Gerechtigkeit" das letzte Stündlein geschlagen: More ha-zädäq ist nach Maier mit "Rechtsanweiser" zu übersetzen ("Adviser", "Enactor of Justice"; 121). Midrasch in Qumran ist also auch nicht im Sinne der späteren rabbinischen Tradition zu verstehen (113): "Consequently, there is no reason to assume for Qumran drš/mdrš a connotation like 'to expound' or 'to derive from scripture'. Some of the hermeneutical devices ascribed to the Qumran community do not fit the Qumranic concept of revelation and authority at all, but correspond more or less to Christian or/and orthodox Jewish Biblical canon theology and hermeneutics" (119-120). - F. Siegert entwirft sein Kapitel "Early Jewish Interpretation in a Hellenistic Style" ausgehend von den Techniken der stoischen Homerexegese und der alexandrinischen philologischen Arbeit am Homertext und zeigt im Aristeasbrief die jüdische Rezeption dieses hermeneutischen Programms auf. Der Brief hat nur den Pentateuch im Blick ("there were five scrolls of the Law in Hellenistic-Jewish custom, and not just one") und gebraucht erstmalig die Ausdrücke ????????? "Schrift" und ?????????? "das Buch, die Bibel" bzw. häufiger den Plural (149). Aristobuls und Philos Auslegungsmethoden werden entlang der Fragmente bzw. Traktate vorgestellt und die spätere Rezeption eigens diskutiert, die für Philo fast ausschließlich im Christentum festzustellen ist. In griechischen Katenenhandschriften gab es sogar eine Rubrik "????????????????????" (188). Philologische, allegorische wie typologische Exegese sind hermeneutische Methoden des Altertums und des alexandrinischen Judentums, die das Christentum von der älteren Schwester gelernt hat (197). - R.A. Kraft untersucht die Apokryphen (Deuterokanonika) und die Pseudepigraphen (Apokryphen) unter der methodischen Prämisse, nur explizite Zitate als Zeugnis für Schriftbewußtsein gelten zu lassen, und organisiert die Befunde in mehrere Sektionen: Schriften, die sich als eine Übertragung von himmlischen Tafeln (Tafeln vom Sinai) durch Vermittler auf irdische Bücher verstehen, solche, die ein Bewußtsein dafür zeigen, was später kanonische Literatur werden wird, und Schriften ohne die Einbeziehung von Schrifttraditionen. Bemerkenswert ist an diesem Kapitel (wie dem folgenden) zudem, daß es schon länger im Internet zu lesen war (http://ccat.sas.upenn.edu/rs/rak/kraft.html) und auch Beiträge aus elektronischen Diskussionslisten (IOUDAIOS) zitiert, so daß es neue Methoden der Wissenschaftspublikation aufzeigt. - S. Mason (mit R. A. Kraft) diskutiert "Josephus on Canon and Scriptures".

Mit "Parting of the Ways" ist der noch umfangreichere Teil B. überschrieben. Der erste Beitrag von J. Fossum über religiöse Gruppen und Sekten startet mit einem kurzen Überblick über die christliche Häresiographie und versammelt samaritanische Sekten, Täufersekten, Pharisäer, Sadduzäer, Essener, Christen und Gnostiker und die Grundlinien ihres Schriftverständnisses.

J. M. Harris beschreibt die Entwicklung von der innerbiblischen Auslegung zu der frührabbinischen Exegese. D. Kraemer , R. Kalmin, J. Neusner und É. Levine entfalten ausführlich das Wachstum der rabbinischen Auslegungstradition (schriftliche und mündliche Tora) von der Mischna über die Midraschim und Targumim zu den Talmuden. Die zahlreichen Originalbelege mit englischer Übersetzung sind eine große Hilfe, in die für Christen doch fremde Welt jüdischer Exegese einzusteigen. - H. Hübner beschreibt die Interpretation des Alten Testaments bei den verschiedenen ntl. Autoren und bekräftigt seine These: "Vetus Testamentum in Novo receptum is substantially different from the Vetus Testamentum per se" (372). Ob das jedoch die immanente Interpretation des AT in der Kirche nicht um so notwendiger macht, wenn doch das AT (MT und LXX) unverändert in den Kanon (ein Kanondiptychon!) aufgenommen und nicht durch ein Neues Testament ersetzt wurde? Er betont die Funktion der LXX als Bibel der Christen und das Selbstbewußtsein der ntl. Autoren, mit ihrer christologischen Interpretation des AT die einzig korrekte Interpretation der Schriften Israels zu bieten (334). Hübners Prinzip des paulinischen Kanon im Kanon zentriert sich noch einmal auf Röm 8 als dem "theologically most significant text of the New Testament" (347). Die Zitationspraxis aus dem AT sei stark adressatenbezogen und in Briefen an heidenchristliche Gemeinden daher das AT "not too important" (341). Der Aufweis der Funktionalisierung der AT-Zitate im NT ist äußerst nuanciert, doch gilt über allem Hübners letzter Satz: "in view of questions which touch upon Christian dogmatics substantially, the problem of differences and agreement between Jewish and Christian exegetical methods is secondary" (372). - Die weiteren Kapitel zeichnen die auslegungsgeschichtliche Entwicklung wie üblich von der alexandrinischen Exegese (inkl. Origenes) über die antiochenische Exegese hin zur lateinischen Exegese mit eigenen Kapiteln für Hieronymus und Augustinus, mit dem der erste Teilband "Antiquity" schließt und die Basis für die weitere Exegesegeschichte gelegt wird. G. Stemberger ("Exegetical Contacts between Christians and Jews") spricht Hieronymus wieder mehr Hebräisch-Kenntnisse zu als der TRE-Artikel von P. Nautin (582), während auch nach ihm Origenes anscheinend "could not read or speak Hebrew" [These von N.R.M. de Lange] (578), so auch J.N.B. Carleton Paget in seinem Abschnitt zu Origenes (505 Anm. 157). Eine gewichtige Neuerung ist der Einschub von zwei Kapiteln zur syrischen Bibel (M. Weitzmann) und zur christlichen syrischen Bibelauslegung (L. van Rompay), die den eurozentrischen Blick auf die Exegesegeschichte wesentlich erweitern.

Ein Defizit dieses ersten Teilbandes von HBOT darf nicht verschwiegen werden. Der erste Absatz bei Wevers ist für dieses Detailproblem aussagekräftig:

"The term 'Septuagint' has been used by scholars in three senses. In its broadest sense it refers to the Alexandrian canon, and included not only the Greek version of the Hebrew Scriptures, but also the so-called deuterocanonical books; these are 1 Esdras, Ecclesiasticus, Wisdom of Solomon, Judith, Tobit, Baruch, Epistle of Jeremiah, and the books of the Maccabees. The historical relations between this canon and the Hebrew canon is complex and not at all clear; these texts will not be dealt with in this essay, nor will the problem be discussed".

Leider gilt diese letzte Aussage für den ganzen Band. Die deuterokanonischen Schriften, die teilweise als Werke hoher Schriftgelehrsamkeit angesehen werden müssen und über die Auslegungstechniken des Judentums zur Zeit des zweiten Tempels einiges zu sagen haben, fallen durch das Raster. Ein Blick in das Schriftstellenregister bestätigt die Lücke. R. A. Kraft, der im Rahmen seines Abschnitts über Schriftbewußtsein in den Apokryphen und Pseudepigraphen natürlich nur wenig Platz für die Deuterokanonika hat, schreibt z.B. über Sir:

"The body of the book of Sirach, however, gives no explicit references to scriptural passages, although in wisdom's paean of self-praise 'the law which Moses commanded us' is identified with 'the book of the covenant' (24,23), and elsewhere various biblical people and events are mentioned especially in the 'praise of the famous' section (44-49/50)" (211).

P. C. Beentjes, Jesus Sirach en Tenach, Nieuwegein 1981, 21-41 hat ausführlich die Einleitungsformulare für Schriftzitate bei Sirach untersucht (???; ??; ???; ???) und das invertierte Schriftzitat als Stilfigur diskutiert. Auch die Jeremia-Baruch-Relation (Jer MT, Jer LXX, Baruch, Brief des Jeremia, ...) hätte auslegungsgeschichtlich ein wichtiges Thema sein können. Die "hymnische Erinnerung an den Exodus" (M. Gilbert) in Weish 11-19 nicht minder (verglichen mit der umfangreichen Diskussion kleinerer Schriften von Philo u.a.). Daß die Schriftauslegung in den deuterokanonischen Büchern nicht ausführlicher thematisiert wird, scheint mir eine Schwachstelle des Editionsplans zu sein und ihre stärkere Berücksichtigung wäre keineswegs eine Reprojektion der konfessionellen Differenzen gewesen.

Der erste Band von HBOT (745 Seiten Text + 100 Seiten Register, Abkürzungen etc.) mit seiner themenorientierten Darstellung der frühen Exegesegeschichte legt die wichtigsten Linien frei, die die spätere jüdische und christliche Auslegungstradition prägen werden. Ein stärker wirkungs- bzw. kulturgeschichtlicher Ansatz (Liturgie, Katechese, Kunst, Literatur, ...) wäre den Fragestellungen der Gegenwart und einer größeren Öffentlichkeit vielleicht mehr entgegengekommen, hätte jedoch die theologischen Probleme nicht so prägnant hervortreten lassen, wie es diese Interpretationsgeschichte tut. Mit 210 DM hat der umfangreiche Band auch einen angemessenen Preis erhalten.

Linz, Franz Böhmisch